Angsthauch
ist krank«, sagte Polly und berührte ihn am Arm.
Rose kroch auf allen vieren zur Anrichte und zog sich an ihr hoch. Beim Sturz hatte sie sich den Kopf angeschlagen, und es drehte sich alles, aber da war plötzlich eine Kraft in ihr, die sie vorwärtstrieb und die so stark war, dass nichts sie aufhalten konnte. Mit beiden Händen langte sie zu dem Regal hinauf, auf dem Annas Eierkorb stand. Sie ertastete die zwei dicksten Eier, eins aus Onyx und eins aus Marmor. Sie waren so groß, dass sie sie kaum mit einer Hand greifen konnte. Mit den Eiern in beiden Händen drehte sie sich wieder zu Gareth und Polly um, die reglos auf der anderen Seite der Küche standen und sie beobachteten wie ein Tier im Zoo.
Im nächsten Moment stürzte sie quer durch den Raum. Sie flog auf Gareth zu, riss die Arme hoch und ließ die steinernen Eier auf seinen Kopf niedersausen. In seiner Überraschung gelang es ihm nicht mehr, dem Angriff auszuweichen. Ein Schlag traf ihn genau an der Schläfe. Er ging zu Boden und schlug dabei mit dem Kopf auf die hochgeklappte Abdeckung des AGA. Es ging alles so schnell, dass es Rose gar nicht richtig zu Bewusstsein kam. Sie sprang zurück, Gareth sackte nach vorn. Er landete mit dem Gesicht auf der Siedeplatte des Herds, und das Blut, das ihm aus der Nase schoss, zischte auf dem heißen Metall.
Eine Sekunde lang standen Rose und Polly einfach nur da, starr vor Schreck. Dann stürzte Rose zu Gareth hin und versuchte, ihn vom Herd zu zerren. Er war groß und in leblosem Zustand noch schwerer als sonst. Ein Stück seiner Wange löste sich ab, als sie ihn herunterzog, und verbrannte Haut blieb an der Siedeplatte kleben. Rose kniete über ihm, schluchzend und würgend, und versuchte, ihn wiederzubeleben. Sie schlug ihm auf die Brust, als wolle sie ihm das Leben zurück in den Körper prügeln.
Nichts geschah.
»Gareth!«, schrie sie. »Gareth!«
»Oh, Rose. Was hast du jetzt wieder angestellt?«
Als Rose aufsah, stand Polly über ihr, die Hände in den Hüften, im Gesicht immer noch dasselbe leise Lächeln. Einige Sekunden lang war Rose unfähig, sich zu rühren. Ihr Kopf war völlig leer, bis auf den Gedanken, dass sie rasch handeln musste. Wie ein Tier, das Schutz sucht, sprang sie auf die Füße und flüchtete sich in die Kammer. Sie schlug die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor, damit Polly ihr nicht hinterherkommen konnte. Keuchend stand sie da und wartete, bis sie wieder zu Atem gekommen war.
Was hatte sie getan?
Ihr ging auf, dass sie in eine Falle getappt war. Wenn sie hier wieder herauswollte, musste sie sich nicht nur dem Grauen dessen stellen, was mit Gareth passiert war, sondern sich darüber hinaus auch noch Polly vornehmen, die Drahtzieherin des Ganzen.
Rose handelte rein instinktiv, ihr einziges Ziel war die Selbsterhaltung. Ihr Blick huschte durch den Raum, bis er auf das Gewehr fiel. Gareths Gewehr. Er hatte es aufs oberste Regal gelegt, zweifellos im halbherzigen Versuch, es zu verstecken. Der Trottel. Ein Blinder konnte es da oben sehen, hinter den paar Gläsern mit Apfelchutney, die Pollys Säuberungsaktion überlebt hatten.
Rose stieg auf die Arbeitsfläche und zog sich am Regal hoch, wobei sie wie ein Kletterer mit den Fingern an den Borden Halt suchte. Sie konnte das Gewehr gerade eben erreichen, aber als sie es herunterholte, fiel eins der Chutneygläser zu Boden. Sein klebriger Inhalt spritzte über die Schieferplatten. Eigentlich hätte Rose das bisschen Schmutz egal sein sollen, trotzdem setzte sie in Gedanken »Chutney aufwischen« auf die Liste der Dinge, die noch erledigt werden mussten. Mit einer Selbstverständlichkeit, die sie selbst verblüffte – womöglich war es aus irgendeinem Film hängengeblieben –, knickte sie den Lauf ab. Das Gewehr schien geladen zu sein. Gut.
Sie legte das Ohr gegen die verriegelte Tür. In der Küche war alles still. Wer wusste, was sie vorfinden würde, wenn sie herauskam. Sie konnte nur hoffen, dass die Kinder noch im Garten waren.
Sie hielt das Gewehr auf Brusthöhe, öffnete vorsichtig die Tür und trat langsam in die Küche. Gareth lag noch genau so da, wie sie ihn hatte liegen lassen. Er rührte sich nicht. Um ihn würde sie sich kümmern, sobald sie mit Polly fertig war.
»Ich hab mich schon gefragt, wann du da wieder rauskommst«, meinte Polly.
Rose wirbelte zu ihr herum. Polly hatte wieder im Sessel Platz genommen. Als sie die Waffe sah, begann das kranke kleine Lächeln in ihrem Gesicht zum ersten Mal zu
Weitere Kostenlose Bücher