Angsthauch
serviert wurde. Ihr Blick schweifte über die Gegenstände im Raum, als würde sie im Geiste irgendwelche Berechnungen anstellen.
Schon früher hatten Pollys Gedanken nie stillgestanden, und genau wie bei Rose hatten sich auch bei ihr die Charakterzüge aus der Kindheit mit dem Alter verfestigt. Polly war immer ein ruheloser kleiner Elf gewesen, wohingegen Rose sich selbst als eher schwerfällig und gewohnheitsliebend einschätzte. Sie blieb zu Hause, während Polly in die Welt hinauszog. Sie fragte sich, was besser zu einer Frau passte, die auf Ende dreißig zuging.
Rose ging zurück zum Küchentresen, um rasch das Dressing für den Salat anzurühren, und Gareth beugte sich zu Polly herunter, um sie zur Begrüßung in die Arme zu nehmen.
»Schön, dich zu sehen, Polly«, sagte er und hielt sie fest. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das mit Christos tut. Er war der Beste.«
»Ja, das war er.« Sie sah zu ihm auf.
»Ich wünschte, ich hätte es mal geschafft, ihn zu besuchen«, fuhr Gareth fort, goss sich ein Glas Wein ein und setzte sich. »Ich darf gar nicht dran denken, dass wir uns das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen haben.«
»Als er allein nach England gekommen ist«, meinte Polly und blickte in ihr Glas.
»Hm.«
»Damals lief es gerade nicht so gut zwischen uns.«
»Ja, er hat so was erwähnt.«
»Aber danach wurde es wieder besser«, sagte sie und sah auf. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ehrlich, Gareth.«
Gareth nahm ihre Hand. »Ich weiß, Polly. Ich weiß.«
Rose, der es schwergefallen war, sich nicht in die Unterhaltung einzumischen, war beeindruckt von der Warmherzigkeit, die Gareth Polly gegenüber zeigte. Vermutlich war ihm klargeworden, wie egoistisch seine erste Reaktion auf ihren bevorstehenden Besuch gewesen war. Und natürlich wusste er, wie viel Polly Rose bedeutete.
In aller Fairness musste man sagen, dass er sich anfangs redlich bemüht hatte. Vielleicht hatte Polly recht, und es war wirklich Eifersucht, weil sie ihm den besten Freund weggenommen hatte. Rose hingegen vermutete, dass er einfach nichts mit Polly anzufangen wusste. Es konnte mitunter eine ganze Weile dauern, bis man auf ihren Geschmack kam.
Einmal hatte Rose im Versuch, eine Annäherung herbeizuführen, ein Treffen zwischen den beiden in einem Pub in Hammersmith arrangiert. Sie hatte beiden getrennt voneinander erklärt, dass dies die ideale Gelegenheit sei, herauszufinden, was genau zwischen ihnen nicht funktionierte. Schließlich waren sie die zwei Menschen auf der Welt, die Rose am meisten liebte. (Drei, wenn sie Christos mitzählte, aber sie zwang sich, es nicht zu tun.) Sie konnte den Gedanken, dass sie sich hassten, einfach nicht ertragen.
Rose blieb in Gareths Wohnung in der Nähe von Elephant and Castle, schaute sich Pulp Fiction auf Video an und trank eine ganze Flasche Wein aus. Als Gareth um elf Uhr abends nach Hause kam, war er noch betrunkener als sie. Er roch nach Bier und nach frischer Luft.
»Und? Wie war’s?«, fragte sie.
»Mann, bin ich froh, wieder hier zu sein.« Mehr sagte er nicht.
Danach schien er Polly nur noch mehr zu verabscheuen. Roses Plan war fehlgeschlagen, die zwei hatten nie wieder ein Wort miteinander gesprochen. Und jetzt saß er in ihrer Küche, hielt Pollys Hand und versuchte, sie zu trösten.
Er gab sich wirklich Mühe.
»Wo sind denn die Jungs?« Gareth löste sich von Polly und trommelte mit den Handflächen auf den Tisch. Der Augenblick war vorüber.
»Gareth kann es kaum erwarten, Nico und Yannis zu treffen«, erklärte Rose, als sie den Salat auf den Tisch stellte. »In diesem Haus sind die Frauen in der Überzahl. Er freut sich so darauf, endlich jemanden zu haben, mit dem er Fußball spielen und ein bisschen rumtoben kann.«
»Ja, Anna ist ein echtes Mädchen.« Gareth grinste.
»Und das trotz all meiner Bemühungen, jedweden Rollenklischees entgegenzuwirken«, warf Rose ein. »Ich habe ihr Autos gekauft und Bälle und Bücher über Mädchen, die Jungssachen machen. Ich habe zig Flohmärkte nach diesen grässlichen Actionfiguren abgesucht. Hat alles nichts genützt. Pink regiert die Welt.«
»Ich glaube, Rose musste einige ihrer feministischen Theorien über Veranlagung versus Sozialisierung überdenken«, meinte Gareth zu Polly, bevor er aufstand und zum unteren Treppenabsatz trat. »Kinder!«, brüllte er. »Kommt runter, Abendessen!«
Auf seinen Ruf hin kamen die Kinder die Treppe heruntergepoltert.
»Wir waren ein bisschen laut und haben
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