Angsthauch
Nachmittag, räkelten sich im Bett und lauschten der sonntäglichen Stille. Als Rose schließlich aufstand, um ihnen einen Tee zu machen, musste sie zu ihrem Ärger feststellen, dass Polly das Chaos vom Vorabend immer noch nicht beseitigt hatte. Ihr Blick fiel auf ein benutztes Fixerbesteck zwischen den Bierdosen und Wodkaflaschen und die weißen Pulverreste auf dem Wohnzimmertisch. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie, wenn Polly sich nicht bald am Riemen riss, ernsthaft darüber würde nachdenken müssen, sich eine neue Wohnung zu suchen – ein Schritt, der ihr fast undenkbar schien. Auf dem Weg zu Pollys Zimmer gestattete sie sich einen kleinen Tagtraum, in dem sie mit Christos zusammen in einem Häuschen hoch oben auf einer Klippe über dem Meer wohnte und endlich frei war.
Als sie an Pollys Tür klopfte, war sie gerade bei der Überlegung angekommen, wie viele Kinder sie wohl haben würden.
»Poll? Bist du wach? Willst du auch einen Tee?«
Es kam keine Antwort. Rose klopfte ein zweites Mal. Polly war doch nicht etwa abgehauen und hatte sie mit dem ganzen Müll alleine gelassen?
Leise öffnete sie die Tür. Polly lag splitternackt im Bett auf dem Rücken. In ihren Haaren klebten getrocknete Rest e von Erbrochenem, Gesicht und Kissen waren blutverschmiert. Ihre Haut hatte die gleiche Farbe, in der Rose und Gareth Jahre später ihr Wohnzimmer streichen würden: ein zartes Blau wie von Enteneiern.
Rose stürzte zu ihr und fühlte ihren Puls. Sie glaubte, etwas zu spüren, aber es war schwer zu sagen, weil ihr eigenes Herz so heftig pochte. Sie schnappte sich einen Spiegel von Pollys Nachttisch und hielt ihn ihr vors Gesicht. Weiße Körnchen rieselten auf Polly herab. Das Glas beschlug, das hieß, sie atmete, wenngleich nur schwach.
Rose begann, sie zu schütteln, um sie aufzuwecken, aber Polly war schlaff wie eine Glockenblume am Tag, nach dem man sie gepflückt hat.
Plötzlich stand Christos neben ihr. Auch er war vollständig nackt.
»Ist das …?«, fragte er.
»Ja, das ist sie.«
»Polly Novak?«, stieß er hervor. Rose hatte ihren Bekannten vom Goldsmiths gegenüber ihre berühmte Freundin nie erwähnt.
»Ja. Es geht ihr nicht gut, du musst den Notarzt rufen.« Rose hielt Polly an die Brust gedrückt und widerstand dem Drang, sie weiter zu schütteln.
Christos legte sanft den Arm um sie und gab ihr einen Kuss. »Übernimm du das lieber, Rosa. Ich weiß, was man machen muss – einem Freund von mir ist so was auch mal passiert. Ich nehme sie hoch und sorge dafür, dass sie sich bewegt. Geh und ruf den Krankenwagen, du kennst die Adresse.«
Rose tat wie ihr geheißen, und der Mann von der Rettungsleitstelle stellte ihr eine Frage nach der anderen. Er wollte wissen, was Polly eingenommen habe und in welchen Mengen. Rose konnte ihm nicht viel sagen, antwortete aber so wahrheitsgemäß, wie sie es vermochte. Wen kümmerte es, wenn es einen Skandal gab? Polly musste damit aufhören, sonst würde sie das nächste Mal, wenn Rose sie fand, vielleicht nicht mehr atmen. Trotz der ständigen Unordnung im Wohnzimmer und ihres chaotischen Lebenswandels wollte Rose nicht mal darüber nachdenken, wie ein Leben ohne Polly ausgesehen hätte.
Endlich war der Mann von der Rettungsleitstelle zufrieden und sagte, der Krankenwagen werde in wenigen Minuten da sein. Das Reden hatte Rose beruhigt. Sie ging zurück in Pollys Zimmer, um Christos Bescheid zu sagen, blieb aber wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Christos stand mitten im Raum, nach wie vor nackt, und hielt die gleichermaßen nackte, schlaffe Polly in seinen starken Armen. Sie war wieder ein wenig zu sich gekommen und hatte ein müdes, ekstatisches Lächeln im Gesicht, wie auf Munchs Der Tod und das Mädchen , das in einem Wechselrahmen in ihrem Schlafzimmer hing. Sie sah so wunderschön aus. Christos sang ihr eins seiner Lieder vor und streichelte ihr das Haar.
Als sie die beiden dort stehen sah, wie sie wie zwei Teile eines abgewetzten, aber wunderschönen mit Edelsteinen besetzten Beschlags ineinanderpassten, wusste Rose, dass aus dem Haus auf der Klippe mit Christos niemals etwas werden würde.
Sie sollte recht behalten. Die ganze Zeit während Pollys Krankenhausaufenthalt, dem Presserummel und der Entziehungskur wich Christos nicht von ihrer Seite. Rose war vergessen, und alles, was sie von ihm hatte, war die Erinnerung an eine Nacht. Aber dann kam sein bester Freund und Kommilitone Gareth Cunningham und nahm Stück für Stück seinen
Weitere Kostenlose Bücher