Angsthauch
alles so gut gelaufen war.
Pollys Finger fühlten sich an wie dürre, trockene Zweige. Rose wusste genau, was Polly tat. Ihre scheinbare Unbekümmertheit war nur ein Panzer, eine Maske. In Wahrheit saß sie einer Frau gegenüber, die unter Schock stand. Und nicht irgendeiner Frau, sondern Polly. Ihrer Polly. Rose schwor sich, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sie ins Leben zurückzuholen.
Polly brauchte ihre Hilfe.
Bislang war es so gut wie nie vorgekommen, dass Rose in ihrer Freundschaft die Führung übernommen hatte, und umso größer war ihre Freude. Sie empfand sogar eine gewisse Erleichterung. In den letzten Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, Herrin ihrer eigenen Welt zu sein, und sie bezweifelte, dass sie sich wieder in die Rollenverteilung von früher hätte hineinfinden können.
Flossie hatte seit der Autofahrt so tief und fest geschlafen, dass Rose sie in ihrer Babyschale im Wohnzimmer ganz vergessen hatte. Jetzt allerdings machte sie umso energischer auf sich aufmerksam, und zwar indem sie zu einem Geschrei ansetzte, bei dessen Lautstärke man befürchten musste, dass sie die neu eingezogenen Decken zum Einsturz und die dreifach verglasten Fenster zum Bersten bringen würde.
Rose drückte Pollys Hand, leerte ihr Glas und suchte sich ein Buch, um sich zurückzuziehen und ihr hungriges Baby zu stillen. Die letzte Mahlzeit vor dem Schlafengehen musste für die kommenden sechs Stunden reichen. Rose wusste, dass es an der Zeit gewesen wäre, mit Beikost anzufangen, aber irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen. Sie hatte den Hauch eines schlechten Gewissens, weil sie so viel Wein getrunken hatte, andererseits schliefen Babys mit ein bisschen Alkohol im Blut bekanntlich besser.
»Wir gehen nach oben«, rief sie Gareth und Polly zu. »Da hat Floss mehr Ruhe.« Außerdem hielt sie es für eine gute Idee, die beiden ein bisschen allein zu lassen, damit sie sich aneinander gewöhnen konnten, ohne dass sie ständig dazwischenfunkte. Das tat sie natürlich nur, weil sie eine Auseinandersetzung verhindern wollte, trotzdem war es vernünftiger, sich herauszuhalten und Gareth und Polly die Sache selbst zu überlassen.
Als sie mit Flossie auf dem Arm die Treppe hinaufging, lächelte sie in sich hinein. Wenigstens musste sie sich keine Sorgen machen, dass Gareth Pollys Reizen verfallen könnte, so wie die meisten Männer. Abgesehen davon, dass sie ihrem Mann voll und ganz vertraute, war seine Abneigung gegen Polly bisher so stark gewesen, dass nichts auf der Welt ihn jemals dazu gebracht hätte, sie attraktiv zu finden.
Oben im Schlafzimmer trank Flossie und schmatzte und schnaufte dabei wie ein gieriges kleines Tier. Rose versuchte währenddessen zu lesen, aber sie blieb immer wieder an demselben Absatz hängen und nahm kein Wort wirklich auf. Ihre Gedanken kehrten unablässig zu dem Blick zurück, den Polly ihr nach dem Abendessen zugeworfen hatte, und zu der Bedeutung, die darin verborgen gewesen war.
Der Allgemeinheit präsentierte Rose stets eine rigoros gekürzte Version ihrer Vergangenheit. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Nur Polly, die geschworen hatte, niemals etwas zu verraten, kannte die ganze Geschichte. Lag etwa Gefahr in diesem Blick?
Sie schloss die Augen. Sie wollte nicht an früher denken, wollte sich nicht daran erinnern, wie sie um ihr Leben gerannt war. Als Teenager hatte sie die zweifelhafte Gabe besessen, in ihrem Vater die extremsten Reaktionen hervorzurufen. Meistens war es ihr gelungen, sich im Bad einzuschließen, bis seine Raserei vorbei war, aber manchmal hatte er sie doch erwischt, und dann hatte er seine Fäuste auf sie niedersausen lassen, bis sie so laut geschrien hatte, dass er aufhören musste, aus Angst, die zahlenden Gäste könnten etwas mitbekommen.
Das letzte Mal war ihr das mit sechzehn passiert. Gott sei Dank war Polly dabei gewesen, denn das, was Rose ihrem Vater hatte beichten müssen, war für ihn ein solcher Schock gewesen, dass er sie, wären sie allein gewesen, vermutlich umgebracht hätte.
»Schlampe!«, zischte er und hielt Rose an den Haaren gepackt, während er die Faust hob, um sie ihr in den Magen zu rammen.
Winzig, wie sie war, machte Polly einen Satz quer durch den Raum und hängte sich an seinen Arm.
»Nein!« , brüllte sie so laut, dass er erschrocken innehielt.
Sie baute sich vor ihm auf und spuckte ihm mitten ins Gesicht. Rose, die neben dem Sofa kauerte und sich schützend den Arm über den Kopf hielt, sah in fassungslosem Schweigen
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