Angsthauch
sein.
Gareth musste Rose lange zureden. Ihr Instinkt riet ihr, Flossie auf gar keinen Fall allein zu lassen. Aber am Ende ging sie doch.
Sie betrachtete sich im Spiegel des Badezimmers und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie sah zehn Jahre älter aus als am Tag zuvor, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.
Ihrem Körper haftete der Gestank von saurer Milch an, die aus jeder Pore zu kommen schien. Ihre Haare hatten die Angst der vergangenen zwölf Stunden absorbiert und in Schmutz umgewandelt. Gareth hatte die Flasche mit ihrem Badezusatz eingepackt, und sie füllte die Wanne des Elternbadezimmers mit duftendem Schaum. Dann ließ sie sich ins Wasser sinken und versuchte, an gar nichts zu denken.
Nach dem Bad zog sie saubere Sachen an, einschließlich ihrer Lieblingssocken und Lieblingshausschuhe. Sie spürte, wie ein den Umständen nicht ganz angemessener Schauer der Freude durch ihren frisch gereinigten Körper ging, als sie daran dachte, wie viel Mühe sich Gareth trotz all seiner Wut und Sorge beim Packen des Rucksacks gegeben hatte.
Als sie aus dem Bad kam, war Kate wieder da. Sie saß neben Gareth und Anna an Flossies Kasten.
»Du siehst schon viel besser aus.« Gareth sprang auf und überließ ihr seinen Stuhl.
»Phantastisch«, sagte Kate. »Und die Ärzte sind wirklich zufrieden mit Flossies Fortschritten. Es läuft alles sehr gut.«
»Rose«, meinte Gareth, »wir müssen gleich wieder gehen. Simon passt auf die Jungs auf, ich muss sie noch abholen und allen was zu essen machen.«
»Im Tiefkühlfach ist noch ein Eintopf«, sagte Rose.
»Mach dir keine Sorgen. Dad hat versprochen, wir holen uns heute Abend Pizza«, teilte Anna ihr mit. Roses Kochkünsten zum Trotz war Annas erklärtes Lieblingsgericht die Meateor-Pizza von Domino’s.
»Seid ihr noch da?«, ertönte plötzlich eine verzagte Stimme. Rose drehte sich um und sah Polly hinter ihnen stehen. Eine Sekunde lang hörten alle auf zu reden und sahen sie an. Dann löste sich die Anspannung in einem kollektiven Seufzer.
»Also, ich werd dann mal.« Kate erhob sich und zog ihre Jacke an. »Sonst vergisst meine Familie noch, wie ich aussehe.«
»Danke für alles«, sagte Rose.
»Keine Ursache«, meinte Kate und eilte davon. Von Polly nahm sie keinerlei Notiz.
»Du wartest wohl auf eine Mitfahrgelegenheit?«, wandte Gareth sich an Polly.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wann hier die Busse fahren.«
»Es gibt keine Busse«, erklärte Anna. »Aber du kannst bei uns mitfahren.«
»Wir wollten sowieso gerade los. Komm.« Gareth und Anna streichelten Flossie noch ein letztes Mal, dann gaben sie Rose einen Kuss und gingen.
Auf dem Weg hinaus drehte sich Polly noch einmal zu Rose um. »Danke«, formte sie stumm mit den Lippen, allerdings ohne auch nur die Andeutung eines Lächelns.
19
D ie erste Nacht im Krankenhaus war lang, heiß und unbequem. Das Sesselbett kam Rose zu klein vor, die Decke zu dick. Sie zwang sich, alle halbe Stunde aufzuwachen, um nach Flossie zu schauen, die keinerlei Veränderung zum Besseren oder Schlechteren erkennen ließ.
Der Morgen kam, oder vielmehr: Die dämmrigen Lichter, mit denen die Betten der Babys beleuchtet wurden, gingen aus, und harsches blaues Leuchtstoffröhrenlicht ging an. Rose hatte Kopfschmerzen. Nachdem sie eine Schwester gebeten hatte, kurz auf Flossie aufzupassen, ging sie los, um sich Kaffee und einen Donut zu holen. Sie merkte, wie der Krankenhausmief ihr in die Poren drang. Ihre Haut sah teigig aus, ihre Bewegungen waren schwerfälliger geworden. Nur mit Mühe konnte sie sich eine Welt außerhalb der Klinikmauern vorstellen.
Sie sah die Kinder vor sich, die zu Hause vor dem Fernseher Pizza aßen, wie sie es wahrscheinlich am vergangenen Abend getan hatten. Allerdings fiel es ihr schwer, sich auszumalen, was Polly und Gareth währenddessen gemacht hatten. Nach dem, wie sie die beiden am Vortag erlebt hatte, hatte sie keine Ahnung, wie der Abend für sie geendet haben könnte. Sie hatte Polly noch nie so aufgelöst gesehen. Als hätte man ihr nicht nur den Wind aus den Segeln, sondern gleich die ganzen Segel weggenommen. Und Gareth war außer sich gewesen vor Zorn – auch das kam selten vor.
Vielleicht lag es daran, dass sie Schwierigkeiten hatte, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen, aber Rose wusste nicht recht, worauf sie hoffen sollte: dass Gareth hart blieb und Polly wegschickte oder dass er seine Meinung änderte und sie bleiben durfte. Dann waren da
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