Angsthauch
später – sie hatte sich gerade über Flossie gebeugt, wie um sie zu animieren, schneller gesund zu werden – spürte Rose eine Berührung an der Schulter. Sie drehte sich um. Es war Gareth.
»Es war eine lange Nacht«, sagte er.
»Ja.«
»Wie geht es meiner Kleinen?« Er streckte die Hand durch das Loch im Kasten und streichelte Flossies Wange.
»Angeblich macht sie Fortschritte«, antwortete Rose und wiederholte das, was die Ärztin ihr gesagt hatte.
»Wie lange noch, bis sie nach Hause kann?«, erkundigte sich Gareth.
Rose versetzte sich innerlich einen Tritt. Das hätte sie fragen sollen.
»Ich weiß es nicht.«
»Wir wollen euch beide wiederhaben«, sagte er. Er ging los, um sich einen Stuhl zu suchen, den er zurück zu Rose trug. Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
»Und?«, wollte Rose wissen. »Wie ist es mit Polly gelaufen?«
»Ich habe sie noch nie so erlebt wie gestern Abend«, sagte Gareth. »Ich glaube, ich habe endlich ihre menschliche Seite entdeckt.«
»Ist das gut?«
»Mir war gar nicht klar, wie viel du ihr bedeutest«, fuhr er fort. »Sie hat mich angefleht, ihr zu verzeihen. Sie ist am Boden zerstört.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Also, Rose, es ist doch so. Soweit ich die Lage beurteilen kann, wäre es für uns alle furchtbar, wenn sie ginge – selbst wenn wir ihre Gefühle nicht mit in Betracht ziehen. Du würdest mir nie verzeihen, ich hätte ein schlechtes Gewissen, und für die Jungs wäre es überhaupt das Allerschlimmste. Sogar Anna hat mir heute Morgen deswegen die Hölle heißgemacht.«
»Glaubst du denn jetzt, dass es ein Unfall war?«, fragte Rose.
»Soll ich dir was sagen? Ich denke, schon. Sie war dumm und hat nicht nachgedacht – ihre Worte, nicht meine. Sie schwört, dass so was nie wieder vorkommt. Und weißt du, der Tag in der Ruine will mir einfach nicht aus dem Kopf. Wie viel Spaß wir hatten, wie perfekt alles war – bis dann das hier passiert ist, meine ich.«
Rose war sprachlos. Gareths Sinneswandel war so plötzlich erfolgt, so vollständig, dass sich ihr automatisch die Frage aufdrängte, was genau Polly gesagt hatte, um ihn umzustimmen. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass ein paar Tränen Wunder wirken konnten, wenn es darum ging, bei Gareth etwas durchzusetzen. Sie wünschte, sie hätte sehen können, was zwischen den beiden abgelaufen war. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war, dass jetzt alles gut werden würde.
»Danke!«, sagte sie und schlang die Arme um ihn.
»Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass Flossie bald gesund wird«, meinte er und wandte sich wieder dem Kasten mit ihrer kleinen Tochter zu.
20
D ie folgenden Tage schienen sich auf das Grau der Vorhänge um Flossies kleine Nische zusammenzuziehen. Rose wusste nicht, ob es bloß Tage waren, die vergingen, oder Wochen. Eigentlich hätte ihr der immer wiederkehrende Reigen aus Visite, Besuchen durch die Krankenschwestern und unzähligen Tassen Tee dabei helfen müssen, die Zeit zu strukturieren, aber das tat er nicht. Rose entwickelte die Theorie, dass der Tee, den die ehrenamtlichen Helfer aus großen Kannen ausschenkten, mit Beruhigungsmitteln versetzt war. Damit alle schön ruhig blieben und die Situation nicht außer Kontrolle geriet.
Sie versuchte, den Müttern der zwei benachbarten Nischen von diesem Gedanken – der halb Witz war, halb Verschwörungstheorie – zu erzählen, aber die hatten sie bloß angestarrt, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Mittlerweile kam sie sich schon wie eine Außerirdische vor. Die anderen unterhielten sich ganz selbstverständlich miteinander, aber Rose drehten sie dabei immer den Rücken zu. Vielleicht lag es daran, dass sie so abgewetzt aussah. Alle anderen Mütter waren stets adrett und gepflegt, während Rose nicht mal die Kraft aufbrachte, sich die Haare zu kämmen, geschweige denn ein komplettes Make-up aufzulegen. Womöglich hatte sich auch herumgesprochen, weshalb Flossie im Krankenhaus lag, und Rose wurde geschnitten, weil alle sie für eine schlechte Mutter hielten. Was auch immer der Grund für die Ablehnung war, Rose kam sich vor wie eine Aussätzige. Das Gefühl weckte Erinnerungen an andere Krankenhausaufenthalte und an Erlebnisse aus der Schulzeit in ihr – Zeiten, die sie erfolgreich verdrängt zu haben glaubte.
Es gab nur einen einzigen Augenblick, in dem sie sich den anderen verbunden fühlte. Am zweiten Tag starb eines der Babys auf der Station. Sein Tod kam nicht unerwartet: Das
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