Angstschrei: Thriller
besser dran ist.« Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. » Hast du meinen Pullover gesehen?«
» Da drüben auf dem Schaukelstuhl. Unter meinen Sachen.«
» Danke.« Sie wühlte ihn hervor und streifte ihn sich über den Kopf. Anschließend holte sie eine Haarbürste aus ihrer Handtasche und stellte sich vor den langen Spiegel auf der Rückseite der Badezimmertür.
Er trat hinter sie und betrachtete sie im Spiegel, während sie anfing, ihre kurzen blonden Locken zu kämmen. » Dir ist doch klar, dass das, was ich mache, nichts Falsches ist«, sagte er. » Es ist ein ehrenwerter Beruf. Eine wichtige Aufgabe. Und ich mache sie gern.«
Sie drehte sich um und streichelte ihm über die Wange. » Das weiß ich. Und ich respektiere das. Ich will dich ja gar nicht daran hindern, der zu sein, der du bist, genauso wenig, wie du mich daran hindern willst, Künstlerin zu sein.«
» Aber dann muss es noch einen anderen Grund geben.«
» Also gut.« Sie seufzte tief. » Da du ganz offensichtlich nicht lockerlassen kannst: Ja, da ist noch etwas anderes. Etwas, das mir Angst macht und das ich scheinbar einfach nicht aus dem Kopf bekomme, sosehr ich es auch versuche.«
» Und was genau ist das?«
Kyra antwortete nicht sofort. Sie stand da, den Blick auf sein Spiegelbild gerichtet. Sekunde um Sekunde verging. Eine ganze Minute. » Bitte«, sagte er, » sag mir einfach, was es ist.«
» Also gut, wenn du es unbedingt wissen willst, Carol Comisky macht mir Angst. Um ehrlich zu sein, jagt sie mir sogar eine Höllenpanik ein. Erinnerst du dich an Carol Comisky?«
Natürlich erinnerte er sich an Carol Comisky. Sie war die Witwe eines Polizisten, der im letzten Jahr ums Leben gekommen war. Er hatte versucht, eine Zeugin vor einem Killer zu beschützen, und dieser hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, woraufhin er verblutet war. Derselbe Killer hätte damals um ein Haar auch McCabe umgebracht.
» Ja. Kevins Frau. Seine Witwe. Was ist mit ihr?«
» Weißt du noch, wie sie damals bei der Beerdigung ausgesehen hat?«
Sie wusste, dass McCabe sich daran erinnern konnte. Er erinnerte sich an alles. An jedes Wort, das er jemals gehört oder gelesen hatte. An jedes Bild, das er jemals gesehen hatte. Zumindest diejenigen, die so wichtig waren, dass sie ihm auf den ersten Blick aufgefallen waren. Er besaß ein fotografisches Gedächtnis. Die Szene auf dem Friedhof erwachte in außergewöhnlicher Klarheit vor seinem geistigen Auge zum Leben, bis auf den letzten Grashalm. » Ich sehe da in erster Linie eine trauernde Frau. Sie weint nicht, aber sie hat einen grimmigen, irgendwie entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Schwarzer Leinenanzug, schwarze Schuhe, flache Absätze. Dunkle, kurze Haare. Kein Hut. Drei Kinder, alle noch im Kindergartenalter, direkt neben ihr. Daneben stehen Kevins Eltern. Direkt dahinter Shockley und Fortier, in voller Paradeuniform.«
» Sieh genauer hin, McCabe«, sagte sie. » Schau dir ihr Gesicht an. Das ist kein Grimm. Keine Entschlossenheit. Das ist Wut. Sie hat den Blick genau auf uns gerichtet. Auf dich und mich. Voller Zorn. Auf Kevin, weil er Polizist geworden ist. Auf sich, weil sie ihn geheiratet hat. Auf dich, weil du ihn in dieses Zimmer geschickt hast und wahrscheinlich auch, weil du immer noch am Leben bist und er nicht. Und vielleicht am meisten auf mich, weil ich nicht alleine bin, im Gegensatz zu ihr. Was ich in Carol Comisky sehe, ist eine Frau ungefähr in meinem Alter mit drei kleinen Kindern, die neben einem tiefen Loch im Boden steht und gerade jede Chance, die ihr das Leben einmal geboten hat, in dieses Loch stürzen sieht, zusammen mit ihrem toten Ehemann.«
» Mit ihrem toten Ehemann, dem Polizisten?«
» Ganz genau. Mit ihrem toten Ehemann, dem Polizisten. Und weißt du, was sie außerdem denkt? Sie denkt, wenn ihr Mann doch bloß Buchhalter geworden wäre oder Vertreter oder Schlepperkapitän– ganz egal, was, bloß kein Polizist–, dann stünde sie jetzt nicht hier an seinem Grab und müsste diese drei Kinder nicht alleine großziehen. Und daran können weder die blumigen Reden von Chief Shockley noch die Salutschüsse noch die Dudelsackpfeifer, die in ihren dämlichen Schottenröcken auf und ab marschieren und › Amazing Grace‹ dudeln, irgendetwas ändern.«
» Vielleicht findet sie ja wieder einen Mann.«
» Ja, vielleicht, aber die Chancen stehen nicht allzu gut. Und selbst wenn… darum geht es mir doch gar nicht.«
» Sondern?«
» Mir ist klar, dass du, auch
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