Angstschrei: Thriller
trinken. Er musste nicht mal einen Fuß vor die Tür setzen, um sich Nachschub zu besorgen. In der Vorratskammer standen noch drei frische Flaschen Macallen und warteten nur auf ihn. Mehr war nicht nötig, um seine persönliche Version von Das verlorene Wochenende nachzustellen. Impressionen des von Ray Milland gespielten und an seiner Krankheit zerbrochenen Alkoholikers aus dem Billy-Wilder-Klassiker von 1945 erschienen vor seinem geistigen Auge. Noch so ein Überbleibsel aus McCabes anderem Leben, damals, vor zwanzig Jahren, als er noch ein junger Möchtegern-Regisseur an der Filmakademie der New York University gewesen war. Ob Kyra ihn wohl heiraten würde, wenn er nicht bei der Polizei, sondern im Filmgeschäft gelandet wäre? Wahrscheinlich schon. Die Künstlerin und der Filmemacher. Das passte sehr viel besser als die Künstlerin und der Bulle. Bloß, dass er sie dann niemals kennengelernt hätte. Es wäre ein ganz anderes Leben gewesen.
Er blickte auf die Lichter eines Riesentankers, der gerade dabei war, 80 Millionen Liter Nordsee-Rohöl in den Hafen von Portland zu manövrieren. Ein paar Schlepper zogen und bugsierten den mächtigen blauen Rumpf zum Hochseeterminal in South Portland, wo das Öl in entsprechende Tanks gepumpt und anschließend durch eine Pipeline zu den Raffinerien nach Quebec weitergeschickt werden würde. Während er zusah, dachte er über die Männer nach, die auf Riesenschiffen wie diesem arbeiteten. Einsame Männer, so nahm er an. Hart. Gewöhnt an ein Leben ohne die tröstliche Gegenwart einer Frau. Ob sie ihn wohl für verweichlicht halten würden? Oder für weinerlich? Weil er hier herumjammerte wegen einer Frau, die bereit war, ihm alles zu geben– aber nur bis zu einem bestimmten Punkt? Vermutlich schon, aber das war ihm eigentlich herzlich egal.
Er rappelte sich auf, nippte noch einmal an seinem mehr als halb vollen Glas und ging dann in die Küche, um den Rest in die Spüle zu schütten. Was für eine Verschwendung eines großartigen Single Malts. Aber er zeigte bereits Wirkung, und ihm war klar, dass es hier nicht darum ging, sich sinnlos zu betrinken. Er wusch das Waterford-Glas aus, das letzte von insgesamt vieren, die seine Schwester Fran, mittlerweile seit zwanzig Jahren Nonne, ihm und Sandy damals zur Hochzeit geschenkt hatte. Was für eine Ironie. Schwester Fran, Tochter eines Trunkenboldes und Braut Christi, schenkt ihrem kleinen Bruder ein paar Whiskeygläser zur Hochzeit mit einem Flittchen. Einem wunderschönen Flittchen, aber eben trotzdem einem Flittchen. Nach dem Scheitern der Ehe hatte Sandy zwei Gläser in ihr neues Leben als Ehefrau eines reichen Investmentbankers mitgenommen. Das dritte war beim Umzug nach Portland kaputtgegangen. Das hier war das letzte, und er hütete es wie einen Schatz. Er trocknete es sorgfältig ab und stellte es zurück in das oberste Regal, sodass ihm nichts zustoßen konnte.
McCabe blickte auf seine Armbanduhr. Fast schon sechs. Wenn er es rechtzeitig zu Kyras Vernissage schaffen wollte, dann musste er sich langsam, aber sicher auf den Weg machen. Er rief Casey auf dem Handy an und vergewisserte sich, dass sie gut in Sunday River angekommen war. Dann stellte er sich kurz unter die Dusche. Bevor er in seine Kleider schlüpfte, schaltete er den kleinen Fernseher in der Zimmerecke ein, um sich den Wetterbericht anzusehen. Minus zehn Grad, gefühlte Temperatur minus fünfzehn. Über Nacht noch einmal deutlich kälter, dazu heftige Schneefälle nach Mitternacht. Mein Gott. Wann ließ diese gottverdammte, brutale Kälte eigentlich endlich mal nach? Den ganzen Winter ging das jetzt schon so. Er war sogar gezwungen gewesen, seinen inneren New Yorker zu überwinden und sich beim L.L. Bean-Outlet in der Congress Street Thermounterwäsche zu kaufen. Er fand eine lange Unterhose, die noch in der Originalverpackung steckte, packte sie aus und zog sie an, obwohl er die Dinger hasste. Aber er musste zugeben, dass sie die Kälte etwas erträglicher machten. Sein kleiner Schrank war vollgestopft mit den wenigen Sachen, die er zum Anziehen besaß, sowie Kartons mit all dem Zeug, das er bei seinem Umzug vor vier Jahren hierher mitgebracht und immer noch nicht ausgepackt hatte. Er griff nach einer braunen Kordhose und streifte sie über die lange Unterhose. Dazu ein dunkelbrauner Pullover mit Rundkragen. Anschließend sein Sportsakko aus brauner, samtweicher Wolle.
Ein Geschenk von Kyra, das sie kurz vor Weihnachten in einer Edelboutique am Copley
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