Angstschrei: Thriller
entsprungen aus Robert J. Flahertys bahnbrechendem Dokumentarfilm von 1922. Perfekt ausgerüstet, um sich durch die Tundra zu schlagen. Das Buch über den britischen Entdecker Shackleton und seine Endurance -Expedition fiel ihm ein. Der hatte mitsamt seinem Schiff einen ganzen Winter im antarktischen Eis verbracht und zum Schutz vor der Kälte lediglich einen gefütterten Burberry-Mantel getragen. Steife Oberlippe? Aber auf jeden Fall. Und nicht etwa deshalb, weil Shackleton Brite war. Die Lippe war einfach nur steifgefroren. Er bog nach links in die Congress Street und ging in westlicher Richtung den Munjoy Hill hinunter. Trotz der seit einem Jahrzehnt in Gang befindlichen Restaurations- und Aufwertungsbemühungen hatte sich das Viertel am Munjoy Hill die Atmosphäre einer Arbeitersiedlung bewahrt. Eher kleine Holzhäuschen, viele noch aus der Zeit um 1900. Die meisten in Eigentumswohnungen aufgeteilt. Heute Abend waren die Häuser alle fest verrammelt, die Vorhänge zugezogen. Er ging weiter und begegnete einigen Paaren auf dem Weg in eine der Kneipen oder eines der Restaurants, die hier wie Pilze aus dem Boden schossen– The Front Room, der Blue Spoon, die Bar Lola… und natürlich auch sein zweites Zuhause, das Tallulah’s. Allesamt voll mit Gästen, schließlich war es Freitagabend. Und vor jedem standen ein paar unerschrockene Mittzwanziger, die verzweifelt genug waren, der Kälte zu trotzen, nur um ihre Tagesration Nikotin zu inhalieren.
Seine Gedanken wanderten zurück zu Kyra. Zu dem Streit, wenn es denn einer gewesen war. Warum war er überhaupt so scharf darauf, noch einmal zu heiraten? Seine Ehe mit Sandy war eine einzige Katastrophe gewesen. Abgesehen davon natürlich, dass Casey dabei herausgekommen war– ohne Frage das Beste, was ihm je passiert war. Schon sehr verwunderlich, dass der Körper dieser selbstsüchtigen Zicke so ein wunderbares Kind hervorgebracht hatte. » Nie wieder«, das war das Einzige gewesen, was sie nach den neunstündigen Wehen gesagt hatte. Wollte ihre neugeborene Tochter nicht einmal auf den Arm nehmen. Stillen? Nie im Leben!
Also warum wollte er sich dieses ganze Eheding noch einmal antun? Nun, zum einen war Kyra nicht Sandy. Sie waren ungefähr so unterschiedlich, wie zwei hinreißende, verführerische Frauen bloß sein konnten. Aber warum konnte er dann nicht einfach seine Beziehung mit der hinreißenden, verführerischen Kyra genießen und die Option Ehe einfach streichen? Das war eine Frage, die jeder Therapeut ihm stellen würde. Er musste sich eine Antwort darauf einfallen lassen.
Als McCabe die Washington Avenue überquerte, machte die Kälte ihm allmählich zu schaffen. Seine Ohren und Zehen waren dabei taub zu werden, und, betrunken oder nicht, er fing an zu bereuen, dass er sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte. Natürlich wurde er nach und nach wieder nüchtern, aber nicht schnell genug. Er kam an einem neuen Laden vorbei, dem Frost Line Café, tagsüber eine Kaffeebar und abends ein Kabarett-Club mit offener Bühne. Er blieb stehen und versuchte einen Blick hineinzuwerfen, aber die Fenster waren von innen vollkommen beschlagen.
Er trat ein und arbeitete sich durch die lärmende Menge bis zur Theke. Dort bestellte er bei einer massigen, mit Piercings übersäten jungen Frau eine kleine Tasse Kaffee. Die Bedienung trug so viel Make-up, dass sie aussah, als wäre sie direkt von den Dreharbeiten zu Ernst Lubitschs Carmen hierhergeflüchtet. War sie vermutlich auch. Konnte bloß ihre Kastagnetten nicht finden. Nur ihr hundertprozentiger Maine-Akzent wollte so gar nicht zu der ganzen Aufmachung passen. Sie drückte ihm einen Tonkrug in die Hand, der auch als Suppenterrine durchgegangen wäre, und deutete auf eine Reihe Thermoskannen am anderen Ende der Theke. Sagte, dass er sich selbst bedienen solle. Er schenkte sich ein und fügte dem starken Gebräu einen kräftigen Schuss Milch hinzu. Wahrscheinlich konnte er die Kalorien gut gebrauchen, schließlich hatte er schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen.
Am anderen Ende der Kneipe grölte gerade eine Sängerin ihre Version des Dixie-Chicks-Songs » Not Ready to Make Nice« ins Mikrofon. Das Publikum schien allerdings eher daran interessiert, sich zu unterhalten als ihr zuzuhören. Natalie Maines hatte nichts zu befürchten. McCabe ließ den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem Platz, wo er sich mitsamt seiner Mega-Tasse unterbringen konnte, da spürte er, wie sein Handy vibrierte. Aber bis
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