Angstschrei: Thriller
diesem Fall wäre sie ja noch nicht gefroren gewesen. Er hätte sie doch ohne Mühe ins Hafenbecken werfen und davonfahren können. Stattdessen steckt er sie in den Kofferraum und lässt sie einfach stehen? Nein. Das passte nicht zusammen. Viel wahrscheinlicher war es, dass jemand den Wagen mit der Leiche im Kofferraum hierhergefahren hatte. Jemand, der wollte, dass der Wagen bemerkt wird. Dass die Leiche gefunden wird.
Schließlich schaltete McCabe die Taschenlampe aus und erhob sich. Er holte tief Luft und ging zum Kofferraum, machte sich für die ersten Sekunden mit dem Mordopfer bereit. Der Bulle und die Leiche. Eine einzigartige und seltsam intime Verbindung. Nur sie beide. Für McCabe machte es dabei keinen Unterschied, wer das Opfer war. Ein Gangster oder ein unschuldiges Kind. Für ihn geschah in diesem Augenblick der Intimität jedes Mal das Gleiche: Er ließ das, was für andere Polizisten nichts weiter war als ein Job, zu einer Verpflichtung werden. Zu einem heiligen Versprechen: den Täter zu finden und zu bestrafen, für Gerechtigkeit zu sorgen, das Gleichgewicht von Gut und Böse wiederherzustellen. Auch wenn Gott im Himmel ebenfalls eines Tages an die Reihe kommen würde– im Moment, davon war McCabe überzeugt, hieß es: Die Rache ist mein. Ich bin zuerst dran.
Aus der Düsternis des geöffneten Kofferraums schimmerte ihn bläulich weiß und mit wächserner Haut die tiefgefrorene weibliche Leiche an. Sie lag auf der Seite. Das Kinn auf der Brust. Knie und Arme angezogen. Wie ein Taucher, der sich über die Reling fallen lässt. Und doch kam die Tote ihm selbst in dieser Stellung irgendwie vertraut vor.
Er knipste die Taschenlampe an und sah sich unvermittelt einem Körper gegenüber, den er besser kannte als seinen eigenen. Sandy. Seine Exfrau, die treulose Schlampe. Die nicht nur ihrer gescheiterten Ehe, sondern auch ihrem einzigen Kind, ohne mit der Wimper zu zucken, den Rücken gekehrt hatte. Wie oft hatte er sich im Stillen ihren Tod gewünscht? Und jetzt, irgendwie, war es so gekommen. Sie war tot. Tiefgefroren. Eingequetscht in einem Kofferraum. Was, zum Teufel, machte sie hier? Das ergab doch keinen Sinn.
Er ließ den Lichtstrahl über die dichten Locken gleiten, die ihr Gesicht bedeckten. Ihr Haar war länger, als er es in Erinnerung hatte, aber er hatte sie ja auch eine ganze Weile nicht gesehen. Er wusste, dass er sie vor Terris Eintreffen eigentlich nicht berühren durfte, nicht einmal ihre Haare. Tja, Pech gehabt. Jacobi hatte seine Fotos ja schon gemacht, und darum würde er sich durch nichts in der Welt davon abhalten lassen nachzuschauen. Er tastete seine Taschen nach dem Plastikkugelschreiber ab, der dort irgendwo sein musste. Er hielt ihn an einem Ende fest und schob das andere unter ihre Haare, wobei er sich für einen kurzen Moment die Frage stellte, ob diese vielleicht auch, wie ihre Arme und Beine, steifgefroren waren. Sie waren es nicht. Er hob die Haare vom Gesicht, ging in die Hocke und leuchtete in den Kofferraum. Das wenige, was er sah, reichte ihm. Der Schwung ihrer Oberlippe. Die Wölbung ihrer Nase. Und das Schlimmste: ein lebloses blaues Auge, das ihn anstarrte. Noch im Tod verhöhnte sie ihn.
» McCabe, alles in Ordnung?«
Maggies Stimme. Er gab keine Antwort. Hob einfach nur den linken Arm und scheuchte sie weg. Sein Verstand sagte ihm, dass diese Leiche unmöglich Sandy sein konnte. Aber wenn nicht Sandy, wer oder was war es dann? Eine Art Wahnvorstellung? Ausgelöst wodurch? Zu viel Schnaps? Zu viel Gefühl? Vielleicht drehte er ja durch. Im Traum hatte er sie oft genug tot gesehen. In manchen Träumen hatte er sie sogar selbst getötet. Aber immer mit einer Pistole. Niemals auf diese Weise. Nie ohne sichtbare Spuren. Und nie hatte er sie im Kofferraum eines Autos erfrieren lassen. Nicht einmal in einem BMW . Obwohl natürlich klar war, dass man Sandy eher in einem BMW als in einem Ford finden würde.
Er überlegte erneut, ob er sich bei Richard Wolfe, dem Psychiater, einen Termin geben lassen sollte. Vielleicht war es an der Zeit. Zum ersten Mal hatte er Wolfe vor einem guten Jahr aufgesucht, gleich nach den Vorkommnissen um Lucas Kane und im Anschluss an Caseys erste Begegnung mit ihrer Mutter nach über drei Jahren. Kyra hatte ihn damals dazu gedrängt. Er hatte immerzu gezittert und konnte nachts nicht mehr schlafen, und wenn doch, dann wurde sein Schlaf durch heftige Alpträume gestört, die meist von Sandy handelten und nur selten nicht. Kyra
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