Angstspiel
doch ein gefundenes Fressen. Ein Nervenknäuel mit mehr Enden als Anfängen. Wenn ich lüge und behaupte, ich habe mich wirklich umbringen wollen, bekomme ich hier auch einen Jahresvertrag. Und meine Eltern wären total traurig. Also gut, zumindest muss dieser Suizidvorwurf aus dem Raum geschafft werden. Alles andere ist egal.
Wo ist die passende Lüge?
»Alles, was du sagst, bleibt auch hier in diesem Raum.«
Seine Stimme soll einladend klingen.
»Ich will dich ficken.« Ich sage die Worte ganz leise.
Ich registriere, wie jede Faser in dem Typen die Luft anhält. »Das stand auf dem Fenster. Das war auf die Scheibe geschmiert worden. Ich wollte nicht, dass das jemand liest. Ich wollte es schnell wegwischen. Und dabei bin ich abgerutscht. Wir haben alte Fenster bei uns. Dünne Scheiben. Das ging ganz schnell.«
Plötzlich bin ich mir gar nicht so sicher, dass ich lüge. Die Worte standen da nicht. Aber das Herz fühlte sich genauso an wie dieser Satz. Genauso fies. So brutal. So bedrohlich. Ich stelle mir vor, wie er vorher die Scheibe angehaucht hat, um das Herz da mit seinem Finger draufzumalen.
Sein feuchter geifernder Atem auf meinem Fenster. Allein bei dem Gedanken zieht sich mein Magen zusammen.
»Die Worte konntest du richtig lesen?«
»Ja. Sie waren groß und spiegelverkehrt geschrieben.«
Mein Gott, wie leicht mir das Lügen in letzter Zeit fällt.
Ich darf mich wieder vor den Fernseher legen. Der ausgeblichene Herr Bleicher muss jetzt wohl erst mal analysieren, was er glauben soll. Dass ich mich umbringen will oder dass ich mich wieder verfolgt fühle. Er hat mir sein Schweigen versprochen. Ich wünsche mir sehr, dass er sich daran hält. Neben mir knistert eine Tüte Gummibärchen. Ich werde wach, weil jemand an meinem Ohrläppchen zupft.
»He, aufwachen. Wenn es dir nur darum geht, vormittags zu pennen, hättest du auch in die Schule kommen können. Mathe war heute zum Schnarchen. Die reinste Hypnose.«
Julchen lacht mir ins Gesicht. Ich verabschiede mich nur schwer vom Schlaf. Der Schlaf ist mein einziges Zuhause, mein großer Bruder. Gegen Schlaf kommt auch die größte, schwärzeste Angst nicht an. Irgendwann ist immer der Schlaf stärker.
Julchen hebt meinen Arm mit dem dicken Verband hoch.
»Wie kann man sich denn so blöd schneiden? Und dann auch noch am Unterarm. Das sieht zum T-Shirt doch beschissen aus.«
»Stimmt. Wie blöd von mir. Da wäre ich wohl besser zuerst mit dem Hintern durchs Fenster gefallen. Dann hätten sie mir hier vorm Zutackern noch ein bisschen Fett absaugen können.«
Julchen gluckst.
»Na ja, jetzt kommt ja erst mal der Winter, die langärmlige Zeit. Aber im Ernst. Wie hast du das geschafft? Direkt vor dem Fenster steht doch dein Schreibtisch, oder? Bist du erst auf den Schreibtisch geklettert und von da gesprungen?«
»Sag bitte nicht, ich sei gesprungen. Wenn das jemand hört, behalten die mich da.«
»Okay. Du hast also auf dem Schreibtisch gesessen, als du plötzlich durchs Fenster gefallen bist?«
»Der Kaktus war da.«
»Wie? Da? Das ist nicht dein Ernst.«
»Das ist mein voller Ernst. Er hat mal wieder eine Nachricht für mich hinterlassen. Ein fettes Herz.«
»Ein Herz? Wie furchtbar. Das ist ja total pervers. Du solltest sofort zur Polizei gehen und Personenschutz beantragen.« Sie gluckst wieder.
Ich drehe mich einfach um und sie rafft wohl, dass ich das superscheiße von ihr fand.
»Sorry, Linda, aber ich glaube echt, dass du dich in was reinsteigerst. Da läuft irgendwo ein Typ rum, der dich offenbar scharf findet. Und? Du solltest dir lieber Sorgen machen, wenn es anders wäre. Als wir noch in Köln gewohnt haben, hat mich der Nachbarsjunge immer total angebaggert. Der war nicht nur absolut neben der Spur, der war auch noch fett. Ich weiß echt nicht, wie der auf die Idee kam, ich könnte ihn auch nur ansatzweise gut finden. Allein dieser Schwabbelbauch - iiiiiihhh.«
»Ich habe mal gelesen, dass die meisten Menschen sich in einen Menschen verlieben, der ähnlich attraktiv ist wie sie selber. Dass also ganz hässliche sich niemals in total gut aussehende verknallen und umgekehrt.«
Ich weiß, das ist gemein. Aber ich habe es einfach satt, dass Julchen mich nicht ernst nimmt. Als würde ich mir
in die Hose machen, weil mir ein Nachbarsjunge eine Tafel Kinderschokolade vor die Tür gelegt hat. Aber Julchen zu beleidigen, ist gar nicht so einfach.
»Wenn der sich selber für ähnlich gut aussehend gehalten hat wie ich, war der noch
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