Angstspiel
Die Songs sind einfach gut. Am besten finde ich zurzeit Das Leben rast vorbei . Da heißt es: Bin ich erwachsen oder bin ich ein Kind?/Schau ich nur zu, wie die Zeit verrinnt? Das trifft mich. Bin ich mittendrin oder steh ich am Rand?/Bist du mir fremd oder sind wir verwandt? Hat das was mit mir und jetzt zu tun?
Die Zeit vergeht so schwer wie Blei, ich lass sie vorüberziehen. Zwischen Nacht und Morgen ist es still, jemand kommt erst jetzt nach Haus/Die Stadt ist ruhig, ihr Atem kühl/Es sieht fast nach Regen aus.
So schön. Schön traurig. Dieser Song zieht mir in alle Poren. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn die Zeit bleiern auf dem Tag liegt. Wenn der Sekundenzeiger sich schwerfällig nach unten und wieder nach oben quält. Und ich liebe diese Momente zwischen »noch Nacht« und »schon Morgen«. Ich bin der absolute Frühaufsteher. Wenn ich morgens aufwache, ist es so, als würde ich auf einem Block eine neue Seite aufschlagen. Manchmal ärgere ich mich dann. Wenn der Tag vorher so schön war. Dann will ich lieber da weitermachen. Auf der alten Seite weiterschreiben. Aber das geht nicht. Jeder Tag fängt oben links auf einer neuen Seite an. Meistens finde ich das aber
gut. Weil der Tag zuvor eben nicht so toll war und ich froh bin, wieder am Anfang zu stehen. Ein bisschen ist das wie Rennen auf dem Sportplatz. Man kommt nicht am Ziel an, sondern am Start. Immer wieder. Ich würde im Deutschunterricht echt gerne mal so einen Songtext interpretieren. Dazu könnte ich echt viel schreiben. Aber wir lesen ja immer nur völlig angestaubte Gedichte. Kann ja sein, dass die in ihrer Zeit so was wie coole Songtexte waren. Jetzt aber nicht mehr. Okay - letztes Jahr haben wir mal ein echt gutes Gedicht gelesen. Augen in der Großstadt von Tucholsky. Das hat mich berührt. Da geht es um den einen Moment, in dem man einem Fremden ganz tief in die Augen guckt. Und sich wie seelenverwandt fühlt oder sich selber erkennt. Dafür interessierte sich unsere Deutschlehrerin Frau Fischer aber nur am Rande. Stundenlang ging es um Kehrreime und Paarreime und Metrum und Erzählerperspektive. Wir mussten echt die Verse zählen. Als ob die Zahl wichtig wäre. Es geht doch um das Gefühl. Als würden »Ich + Ich« sich hinsetzen und sich vornehmen, mindestens zwanzig Reime in ihrem Song unterzubringen. Inhalt egal. So ein totaler Schwachsinn.
Aber es gab noch einen Grund für meinen Chat-Namen. Ich wollte endlich mal nur ich sein. Sonst war ich immer Linda von Luise-und-Linda. Ich war Teil eines Paares. Oft in einem Atemzug gesprochen Luiseundlinda. Wie Salzundpfeffer. Jackewiehose. Exundhopp. Ich liebe Luise. Vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Aber ich habe die Welt nie ohne sie gesehen. Sie war mir immer ein Stückchen voraus. Sie ist vor mir gekrabbelt. Vor mir hergekrabbelt. Vor mir gelaufen. Egal, wohin ich guckte, sie gehörte zum Bild. War immer schon da, wo ich hinwollte. Luise ist toll. Sie ist meine Zwillingsschwester und genau das Gegenteil von mir.
Sie hat dunkle lockige Haare, froschgrüne Augen und ist immer in Bewegung. Luise macht immer drei Sachen gleichzeitig. Mindestens. Sie telefoniert, simst dabei und feilt sich die Nägel. Oder sie hört Musik, lernt dabei Mathe und macht gleichzeitig Hanteltraining. Das Wort Langeweile ist noch nicht mal in ihrem unbenutzten Wortschatz. Luise ist immer auf dem Sprung. Zu einer Verabredung, zu einem neuen Hobby, zu einer anderen Haarfarbe. Ich bin meist mitgesprungen. Deswegen fangen Luises Sätze auch meist mit »Wir« an. So sprechen sonst nur Könige oder Diktatoren, die von sich selber im Plural denken.
»Wir gehen heute Nachmittag auf die Eisbahn«, »wir kriegen heute Besuch von Nicky und Annika«, »wir sind heute mit Merlin zum Mathe-Üben verabredet«, »wir könnten mal wieder grillen«. Wahrscheinlich klingt das jetzt so, als hätte Luise mich tyrannisiert. Stimmt nicht. Ich fand’s gut, dass jemand mein Leben organisierte. Wenn Luise beschlossen hatte, dass wir mal einen Tanzkurs belegen sollten, war ich dabei. Ich musste nirgends alleine hin. Auf langweiligen Familienfeiern, an sterbensöden Urlaubstagen, wenn meine Eltern mal wieder beschlossen hatten, dass wir uns Kirchen oder Schlösser angucken, beim ersten Frauenarztbesuch - es war immer jemand an meiner Seite. Bis zum Sommer. Mir war schon lange klar, dass Luise nicht das Abi machen wollte. Noch mal eine Ewigkeit zur Schule zu gehen, dafür hätte ihre Geduld nicht gereicht. Luise will »was
Weitere Kostenlose Bücher