Angstspiel
bald.«
Er geht zögernd zur Tür: »Linda, wenn du Hilfe brauchst …«
Ich falle ihm ins Wort: »… dann sag ich Bescheid.«
Er geht endlich. Ich bete nur, dass er seinen Eltern nichts erzählt. Dann wird es keine vierzig Sekunden dauern, bis Heike meine Ma anruft. Und dann brauche ich eine richtig gute Geschichte.
Kreißsaal 2. Kreißsaal 1.
Es geht nicht aus meinem Kopf. Gerade war ich noch so müde. Jetzt versperren die Gedanken die Tür zum Schlaf.
Ich versuche, es mir vorzustellen. Meine Mutter hat ein Kind gekriegt. Der erste Schrei ist schon ertönt. Das zweite Baby ist noch im Bauch. Wieso dauert es jetzt noch so lange? Ich hatte immer gedacht, dass Zwillinge schnell nacheinander kommen. Und wieso wechselt sie den Kreißsaal? Liege ich falsch rum und der Arzt braucht noch irgendein Gerät, eine Zange oder so, die im anderen Kreißsaal ist? Nein. Dann hätte er die wohl geholt. Vielleicht doch die Wanne? Mama hat davon nie was erzählt. Mama hat eigentlich total wenig von unserer Geburt erzählt. Ich kämpfe mich mühsam in den Schlaf. Die Fragen haben offenbar nicht geschlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind sie schon da. Haben nur auf mich gewartet.
Beim Frühstück versuche ich es einfach: »Wir reden in Erziehungswissenschaften übrigens gerade über Zwillinge. Die Sozialisierung, genetische Ähnlichkeiten und so. Da geht es auch um die Geburt und die erste Zeit danach. Ich habe mir überlegt, dass ich doch gut ein Interview mit dir dazu machen könnte.«
Sie sieht entsetzt aus. Nein. Sie sieht panisch aus. Meine Mutter ist völlig neben sich.
»Du, Linda, eigentlich gerne. Ich finde das ja auch total spannend. Aber zurzeit habe ich echt viel um die Ohren. Dazu habe ich echt keine Zeit.«
Wie bitte? Sie hat keine Zeit für ein kleines Interview?
»Das würde ja nicht lange dauern. Oder du erzählst mir einfach alles von Luises und meiner Geburt und ich bringe das dann in eine Frage-Antwort-Form.«
»Du, ich glaube nicht, dass es für so ein Interview gut ist, die eigene Geschichte zu nehmen. Da ist man doch überhaupt nicht objektiv.«
»Dann könnte dich ja jemand anders aus dem Kurs befragen.«
Meine Mutter dreht sich abrupt zu meinem Vater um, der gerade reinkommt. »Gut, dass du da bist. Ich wollte noch was mit dir bereden.«
Sie zieht ihn am Ärmel raus.
Ich werde ganz ruhig. Irgendetwas stimmt nicht. Die Angst meiner Mutter konnte ich gerade fast riechen. Ich muss rauskriegen, was sie so in Panik versetzt hat. In mir macht sich auch eine Hoffnung breit. Vielleicht ist das dann der Schlüssel. Vielleicht ist das die Aufgabe, die ich lösen muss, um mich zu befreien.
Ich warte, bis alle aus dem Haus sind. Dann gehe ich zum Bus. Ich versuche, nur an das Ziel zu denken, das ich habe. Nicht an die Angst in meinem Nacken. Diese Angst ist nämlich groß. Größer als die Angst vor meinem Verfolger. Der ist mir garantiert auch auf den Fersen. Aber ich blende ihn aus. Die Frau im Krankenhaus-Foyer ist völlig verwirrt. Irgendwas mit Geburt? Da müsste ich in die Frauenklinik. Einmal über den Hof. Ich frage mich durch, bis ich endlich vor einer Tür stehe. »Geburtenabteilung« steht darüber, daneben ein Knopf. Ich klingele. Nach ewigen Zeiten kommt eine Schwester. Ich erkläre ihr ganz höflich,
was ich möchte. Dass ich ein Zwillingsprojekt für die Schule mache und hier Kopien von einer Zwillingsgeburt von vor sechzehn Jahren habe. Das sei wohl eine außerordentliche Entbindung gewesen, weil sie in zwei verschiedenen Kreißsälen stattgefunden habe. Ob sie mir darüber was erzählen könne. Sie runzelt die Stirn.
»Gerade außergewöhnliche Geburten sind für so ein Referat natürlich spannend«, betone ich ganz freundlich.
Sie guckt auf die Kopien, die ich ihr die ganze Zeit schon hinhalte. Sie guckt sehr lange darauf, dann bittet sie mich rein. Sie bringt mich in ein Besprechungszimmer.
»Nimm dir ein Wasser. Ich bin gleich wieder da.«
Ich will kein Wasser. Sie ist nicht gleich wieder da. Ich hoffe nur, dass ihr keine Geburt dazwischengekommen ist und ich jetzt stundenlang hier sitze. Irgendwann kommt sie mit einem Arzt wieder rein. Der guckt mich an, als wollte er durch mich hindurch aus dem Fenster hinter mir gucken. Mir wird mulmig.
»Du interessierst dich für Zwillingsgeburten? Das ist wirklich ein spannendes Thema. Leider stammen die Kopien, die du da hast, nicht von einer Zwillingsgeburt. Ich könnte dir aber ein paar interessante Dinge von anderen
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