Angstspiel
da alles so steht. Sie ist so eine schlechte Lügnerin.
Ich gehe wortlos wieder runter, schnappe mir meine Wolldecke und mache es mir in Luises neuem Zimmer gemütlich.
»Ich glaube, ich nehme Terrakotta«, sagt sie. »Das hat so was Warmes.«
»Das wird dir bestimmt enorm helfen, wenn hier im nächsten Winter wieder die Heizung ausfällt.«
»Ach, geht die Heizung hier unten nicht?«
Mist, das hätte ich nicht sagen sollen. Vielleicht konnte Opa die einfach nicht richtig bedienen.
»Doch klar. Die ist super. Wenn du willst, kannst du dir hier eine Sauna anlegen«, behaupte ich.
»Ich hoffe für dich, dass das stimmt. Sonst nehme ich deine Möbel und mache damit ein Lagerfeuer bei mir«, sagt Luise lachend.
Weil die Wände ja ohnehin neu gestrichen werden, malen wir mit der roten Farbe wild drauflos. Herzchen, eine Blume, eine Partie Tic-Tac-Toe. Sieht eigentlich ganz gut aus. Findet wohl auch Luise.
»Ich lass das einfach so«, beschließt sie.
Komisch, ich war jetzt nur eine Stunde mit Luise zusammen und fühle mich schon besser. Ruhiger irgendwie. Und stark genug.
Ich gehe zum Telefon. Julchen ist sofort dran. Das überrascht mich fast.
»He, ich bin’s, Linda. Wollte mal hören, wie es dir so geht.«
Doof. Eigentlich müsste sie ja wohl mal fragen, wie es mir so geht.
»He, das ist ja schön, dass du dich meldest. Mir geht es gut. Danke der Nachfrage. Und dir?«
»Geht so.«
Ich hole Luft und weiß jetzt schon, dass ich wie eine eifersüchtige Ehefrau klingen werde: »Du hättest dich ja auch mal melden können. Hat Philipp nicht gesagt, dass ich angerufen habe?«
»Was? Nee, der Blödmann. Hat er wohl vergessen. Ich hätte dich ja auch mal angesimst, aber mein Handy ist seit zwei Tagen verschwunden. Ich bin echt schon fast wahnsinnig geworden. Es ist einfach weg. Ich fühle mich total nackt ohne das Ding.«
»Du Arme.«
Was soll denn der Scheiß? Philipp hat vergessen zu sagen, dass ich angerufen habe, und dann ist auch noch das
Handy verschwunden. Tolle Story. Wer soll das denn, bitte schön, glauben?
Lügen kann ich auch: »Du, mein Handy klingelt gerade, ich muss auflegen. Bis bald.« Julchen braucht nicht mitzukriegen, dass ich heule. Ich bin einfach so wütend, so enttäuscht. Wie kann sie mich so fallen lassen?
Weil ich nicht weiß, was zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich schon für mich im Briefkasten lag, kann ich zu Luise flüchten. Einen letzten Abend vor der großen Wahrheit mit ihr rumalbern. Sie hat sich zum Probeschlafen eine Luftmatratze in Opas Zimmer gelegt. Kurzerhand zerre ich die Matratze aus meinem Bett auch rüber und wir schlafen mal wieder Popo an Popo ein. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich ja noch nicht, dass das alles fürn Arsch ist.
Meine Mutter gibt mir den Brief am nächsten Morgen nebenbei, zusammen mit einer Mahnung der Stadtbücherei. Auf dem Umschlag ist keine Marke. Er ist bei uns eingeworfen worden. Meine Hände zittern mal wieder. Ich schüttele den Inhalt aus dem Umschlag. Es sind zwei Kopien. Mehr nicht. Im ersten Moment sehe ich nur dicke schwarze Striche. Das meiste ist mit Edding durchgestrichen. Oben rechts auf beiden Blättern ist ein Stempel: Städtisches Krankenhaus . Es handelt sich um Formulare. Um zweimal dasselbe Formular, unterschiedlich ausgefüllt. Während ich lese, gehe ich die Treppe runter. Ich verstehe nicht, um was es geht. Die Kopien sind blass, die Handschrift ist fast unlesbar. Es geht offenbar um Entbindungen. Ich verstehe nicht, was ich hier in den Händen halte, aber eine Ahnung kriecht in mir hoch. Das, was diese Blätter verstecken oder verraten, wird nicht schön sein.
Auf einem Blatt ist oben der Name unserer Mutter zu lesen. Karola Muth. Das war ihr Mädchenname. Eigentlich wollten unsere Eltern ja vor der Geburt heiraten.
Doch weil sie ja nun mal zwei Kinder im Bauch hatte, war meine Ma so schnell so dick, dass sie fast in kein annehmbares Kleid mehr passte. »Und in einem Zweimannzelt wollte ich auch nicht heiraten. Außerdem gibt es die nicht in Weiß«, hatte sie mal erzählt. Oben auf der Seite steht Mädchen, spontan kann ich lesen und 3320 Gramm . Ganz unten dann Kreißsaal 2, 9.23 Uhr und eine unleserliche Unterschrift. Auf dem zweiten Blatt ist der Name meiner Ma mit Edding durchgestrichen. Dann wieder Mädchen, spontan und 4030 Gramm. Dieselbe unlesbare Unterschrift. Dasselbe Datum natürlich: 28.8.1994 . Darüber Kreißsaal 1, 17.15 Uhr.
Mehr als vier Kilo. Das war Luise.
Wieso ist auf ihrer Seite der Name
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