Angstspiel
man mit »sechzehn oder siebzehn« antwortet. Eine Uhrzeit vielleicht. So was wie: »Um wie viel Uhr kann ich morgen zur Massage kommen?«
Oder mein Alter. Sie hat nach meinem Alter gefragt. Sie hätte nach meinem Nachnamen fragen können. Oder nach der Schule, auf die ich gehe. Oder welchen Abschluss
ich habe. Sie fragt aber nach dem Alter. Wahrscheinlich ist die gute Frau Knorr schon ein bisschen verwirrt. Wahrscheinlich stand sie damals schon kurz vor der Pensionierung und ist heute schon dement.
Ist sie nicht. Wach und interessiert blickt sie mich aus hellblauen Augen an. Und da ist noch etwas in ihrem Blick, was ich nicht deuten kann.
»Du bist also Linda.«
Sie sagt das, als habe sie schon länger auf mich gewartet.
»Ja. Ich bin Linda. Und ich interessiere mich für den Beruf einer Hebamme. Für die Schule arbeite ich gerade an einem Referat. Und ich habe mal von einem Fall gehört, wo eine Frau Zwillinge bekommen hat. Das eine Kind morgens, das andere am späten Nachmittag. Und das auch noch in zwei verschiedenen Kreißsälen. Das klingt nach einer spannenden Geschichte.«
Ich will ihr nicht die Kopien zeigen. Dann sieht sie ja, dass das eine Mädchen Linda heißt, und rafft sofort, dass ich das bin.
»Ja, das klingt nach einer spannenden Geschichte«, bestätigt Frau Knorr.
»Kommt so etwas häufiger vor?«, frage ich und zücke einen Block. Ich will so tun, als würde ich mir aufschreiben, was sie sagt. Das sieht irgendwie professioneller aus.
»Nein«, sagt sie nur und streicht die glatte Tischdecke noch glatter.
»Das ist also eher eine Seltenheit?«
»Nein.« Sie bleibt ganz ruhig.
»Wie bitte?«
»Ich kenne überhaupt keinen solchen Fall«, sagt sie leise.
»Doch. Kennen Sie. Sie waren die Hebamme.«
Wahrscheinlich wirkt sie nur ganz klar und ist in Wirklichkeit doch schon total neben der Spur.
»Ich war die Hebamme bei deiner Geburt. Und ich war die Hebamme bei Luises.«
Sie weiß, wer ich bin. Sie kennt Luise.
Die Tischdecke muss schon ganz dünn sein vom Drüberstreichen.
»Ja. Von mir und meiner Schwester Luise.«
»Deine Schwester?«
»Meine Zwillingsschwester Luise. Genau.«
Sie sieht traurig aus.
Nein. Sie sieht mich traurig an.
Wieder fühle ich den Sog. Ganz stark. Er zieht mich runter. Ich werfe mit Worten um mich, will mich damit über Wasser halten.
»Vielleicht können Sie sich ja nicht mehr richtig erinnern. Das ist ja schon ein paar Jahre her. Es ist aber nett, dass sie sich trotzdem Zeit genommen haben. Ist übrigens eine sehr schöne Wohnanlage hier.«
»Ich kann mich sehr gut erinnern. Und ich wusste, dass es nicht funktionieren würde.«
»Was würde nicht funktionieren?«
Ich will die Frage eigentlich nicht stellen. Ich will keine Antwort.
»Sprich mit deiner Mutter, Linda.«
Das Gespräch ist beendet. Der Tonfall sagte eindeutig: Geh jetzt besser. Ich nicke nur, schließe leise die Tür hinter mir.
Ich bin Zuschauer, obwohl ich mittendrin sitze. Ich beobachte meine Mutter, die sich Gurkenscheiben auf ihr Brot schnippelt. Ich sehe, wie mein Vater ganz akkurat Käsescheiben abschneidet, Luise löffelt schmatzend ihren Quark. Ich stopfe irgendwas in mich rein. Habe blind eine Scheibe Käse auf eine Brotscheibe gelegt. Was wollte mir Frau Knorr sagen? Luise wäre nicht meine Schwester? Was
für ein schlechter Scherz. Was mir nicht aus dem Kopf geht: Warum hat sie gesagt, ich solle mit meiner Mutter sprechen? Warum hat sie nicht gesagt, ich solle meine Eltern fragen? Wäre das nicht logisch gewesen?
Hat er mich wohl beobachtet? Hat er mich begleitet auf dem Weg zum Wohnstift? War das der Weg, den er für mich vorbereitet hat? Bin ich nah am Ziel? Da, wo er mich hinhaben will? Ich ahne, dass ich kurz davor bin, es zu erfahren …
Der nächste Tag beginnt mit einer SMS. Von Julchen.
Besser? Treffen heute Nachmittag bei mir? Philipp kann dich abholen. Krankentransporte sind ja seine Spezialität.
Ich tippe: Bin noch nicht fit - und lösche es wieder. Ich schreibe: Wie wäre Treffen in City? Einen Tee im Centrale schaffe ich schon. Ich würde gerne sehen, wie Julchen darauf reagiert. Wahrscheinlich würde sie sich winden, würde natürlich nicht zugeben, dass sie lieber nicht mit mir gesehen wird. Wahrscheinlich soll Philipp mich deswegen auch abholen. Damit ich auf dem Weg zu ihr bloß niemanden treffe, dem ich erzählen könnte, dass ich Julchen besuche. Ich lösche meine Antwort Buchstaben für Buchstaben. Ich antworte gar nicht.
»Um
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