Angstspiel
wie viel Uhr sind wir eigentlich geboren? Ich würde gerne mal meinen Aszendenten ausrechnen, das braucht man dafür.«
Ich werfe den Satz auf den sonntäglichen Frühstückstisch.
Meine Mutter schmiert weiter Marmelade auf ihr Brot.
»Morgens.«
»Geht es genauer?«
»So um neun.«
»Echt? Luise hat mir mal erzählt, sie wäre am frühen Abend auf die Welt gekommen. Deswegen sei sie auch so ein Nachtmensch.«
Luise guckt mich überrascht an. »Habe ich?«
Meine Mutter ist mittlerweile aufgestanden, fummelt irgendwas an der Kaffeemaschine.
»Mama, was stimmt denn jetzt?«
»Ist das denn wirklich wichtig? Das ist doch alles Humbug mit den Sternen und den Aszendenten«, mischt mein Vater sich plötzlich ein.
Jetzt reicht es mir.
Ich gehe nach unten, schnappe mir die Kopien und lege sie ganz ruhig auf den Küchentisch.
Die Reaktion ist unglaublich.
Meine Mutter hält sich an der Stuhllehne fest, mein Vater geht zum Telefon, sagt seine Rennradtour ab.
»Kommt. Wir setzen uns mal ins Wohnzimmer«, fordert er uns auf.
Als ich zwei Stunden später das erste Mal aufstehe, weil ich pinkeln muss, tut mir alles weh. Jeder einzelne Knochen. In meinem Kopf fühlt sich alles an wie betäubt. Ich wünschte, ich könnte so heulen wie Luise. Die sitzt in einem Meer aus nassen Tempos und hat schon zwei Wutausbrüche hinter sich, die von Weinkrämpfen abgelöst wurden.
Wir sind keine Zwillinge.
Wir sind noch nicht mal Schwestern.
Wir sind eigentlich keine Familie. Wir sind zwei halbe Familien. Ein Flickenteppich, dessen Nähte sich gerade auf lösen.
Ich bin die Tochter meiner Mutter.
Luise ist die Tochter unseres Vaters. Stopp. Ihres Vaters.
Als ich vom Klo zurückkomme, ziehe ich im Wohnzimmer das Fotoalbum aus dem Regal. Ich setze mich aufs Sofa und blättere die Seiten noch mal durch.
Luise und Papa.
Linda und Mama.
Immer wieder. Hinterher vermischt es sich. Am Anfang nicht. Ich bleibe bei einem Bild hängen, drehe das Album langsam um und zeige es in die Runde.
Mein Vater guckt sich auf dem Foto selber an. Wie er damals Luise das Fläschchen gegeben hat.
Mein Vater nickt, Luise schluchzt laut. Sie wurde nicht gestillt. Meine Mutter guckt traurig auf den Boden.
»Ich hätte dir gerne die Brust gegeben, Luise. Aber das war alles zu viel. Das hätte deinem Vater das Herz gebrochen.«
Wo doch gerade erst Luises Mutter gestorben war. Verblutet bei der Geburt. Da saß er voller Schmerz wegen des Verlustes seiner Frau und voller Glück über diesen neuen kleinen Menschen. Sie trafen sich zufällig im Babyzimmer. Meine Mutter, die partout nicht den Namen des Kindsvaters verraten wollte, und Luises Vater, der so überfordert war. Der nicht wusste, wie er alles schaffen sollte. Den Schmerz überleben, ohne wahnsinnig zu werden. Der Tochter ein guter Vater zu sein. Sich nicht zu fragen, ob dieses Kind es wert war, dass er seine Frau dafür geben musste.
»Und dann habt ihr euch sofort verliebt«, sagt Luise sarkastisch.
»Nein«, sagen beide aus einem Mund.
Beide. Meine Mutter und … Wie soll ich ihn nennen? Ich kann nicht mehr Vater sagen. Meine Mutter hat ihm geholfen. Beim Wickeln, beim Baden von Luise. Sie hat ihm gezeigt, wie Fläschchen sterilisiert werden, was man bei Bauchweh macht. Er hat sie wohl gebraucht am Anfang. Dann auch gewollt.
»Wir haben uns geschämt«, sagt er. »Ich habe mich wie ein Verräter gefühlt. Luise, ich habe deine Mutter unendlich
geliebt. Karola hat sie nicht ersetzt. Es hat ein neues Leben angefangen. Das Leben mit dir. Ich war so glücklich, dich zu haben. Ich wollte alles richtig machen. Ich hatte am Anfang sogar Angst, dass sie dich mir wegnehmen. Ich musste ja auch wieder arbeiten.«
»Wie heißt mein Vater?«, frage ich irgendwann.
»Ich weiß es nicht, Linda. Ich wusste es damals schon nicht. Er war ein One-Night-Stand. Noch nicht mal ein guter.«
Sie sieht meinen entsetzten Blick.
»Nein, nein. Im Nachhinein hat sich diese Nacht als Glücksfall erwiesen. Schließlich bist du das Ergebnis. In der Nacht selber fühlte es sich nicht wie ein Glücksfall an. Ich habe ihn noch nicht mal nach seinem Nachnamen gefragt.«
»Er wollte dich auch nicht wiedersehen?«
»Ich habe ihm eine falsche Telefonnummer gegeben.«
Mein Vater konnte sich also gar nicht bei meiner Mutter melden. Sie hat ihm von Anfang an die Möglichkeit genommen. Er weiß nicht mal, dass es mich gibt. Oder? Oder weiß er es doch? Vielleicht hat er sie gesehen mit dem runden Bauch, hat vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher