AnidA - Trilogie (komplett)
jemandem am anderen Ende des Raumes und entschuldigte sich bei uns.
Mellis erklärte, als sie mein fragendes Gesicht sah: »Der Tlen-na'Tian ist unser Gedächtnis. Wir pflegen unsere Überlieferungen nicht aufzuschreiben, sondern sie besonders begabten Grennach anzuvertrauen, die sie in ihren Köpfen und ihren Herzen für uns bewahren.« Sie legte die Hände zu einem Korb zusammen und hielt sie mir in einer rituell wirkenden Geste entgegen. Dann fuhr sie fort: »Unser Tlen-na'Tian ist allerdings etwas Besonderes: Es ist in dieser Generation ein Grennach-Mann; der Erste, der seit beinahe zwanzig Dekaden unser Gedächtnis ist. Normalerweise sind Männer für diese Arbeit weniger begabt, genauso, wie sie keine überragend guten Künstler und Handwerker sein können. Sie sind zu ungeschickt und auch zu unkonzentriert dazu.« Sie äußerte das mit großer Überzeugung. Ich musste lachen. Wenn unser fingerfertiger Dix so etwas von ihr zu hören bekäme, würde es sicherlich Stunk geben.
Mellis brachte mich zu meinem Schlafnest zurück. Ich bat sie, mir zu zeigen, wie der Glühstein zu handhaben war. Sichtlich erstaunt darüber, dass ich das nicht wusste, wies sie mich geduldig ein. Es war weniger schwierig, als ich gedacht hatte, ich brauchte dafür nur zu wissen, wie man ihn in der Hand halten und »beruhigen« musste. Es kam mir ein wenig wie Zauberei vor, aber dann stellte ich mir vor, wie verwirrt Mellis vor einem Terminal sitzen würde, und musste lachen.
Auch in dieser Nacht schlief ich wie ein zufriedener Säugling. Ich erwachte in der frühen Morgendämmerung und steckte voller Tatendrang den Kopf aus dem Eingangsloch. Heute wollte ich mir den wurzeldurchzogenen Grund rund um den Baum näher ansehen, um meine Beine wieder an festen Boden zu gewöhnen. Eine ältere, rundliche Grennach, genauso freundlich wie alle, die ich bisher kennen gelernt hatte, ließ mich mit dem Korb auf den Boden hinab, und dieses Mal konnte ich die Fahrt sogar genießen.
Das Gewirr der Wurzeln bildete ein regelrechtes Labyrinth auf dem Boden. Ich war groß genug, um wenigstens über einen Teil der Wälle hinwegblicken zu können, aber für die kleinen Grennach war das unmöglich. Hier unten schien alles untergebracht zu sein, was man nicht hinauf in die Baumkrone transportieren konnte oder wollte. Ich wanderte im grünen Zwielicht durch die Gassen, die die dicken Wurzeln bildeten, und fühlte mich beinahe wie in der Altstadt von Cairon City. Es verwunderte mich daher wenig, neben einem der Kuhställe auf Dix zu stoßen. Er flirtete mit der Grennach, die die Tiere versorgte. Er sah mich und strahlte über das ganze, hässliche Gesicht. »Eddy, ich habe dich gesucht!«, rief er und ließ die verdutzte Frau einfach stehen.
Ich ließ seine Begrüßung gerührt über mich ergehen. Wir beide waren uns gegenseitig immer noch ein Stück Heimat, auch wenn wir damit begonnen hatten, uns hier einzuleben. Dix berichtete mir aufgebracht gestikulierend von der abscheulichen, herablassenden Art, wie die Grennach ihre Männer behandelten, und dass diese darüber noch nicht einmal böse zu sein schienen, sondern im Gegenteil ihn wegen seiner Erregung ausgelacht hätten oder gar nicht verstünden, was er von ihnen wollte ...
Ihm ging die Puste aus, und ich musste mir das Lachen verkneifen. »Und dann müssen sie sich auch noch ganz allein um die Kinder kümmern!«, setzte er hinzu und sah mich an, als sei das der Gipfel aller Ungerechtigkeit.
»Ich weiß«, sagte ich unschuldig. »Männer sind zu ungeschickt und auch ein wenig zu dumm für komplexere Aufgaben. Aber sie sind geduldig und gehen sehr liebevoll mit ihren Kindern um ...« Dix hob die Faust, und ich wich lachend seinem Hieb aus.
»He, was ist das da?«, lenkte ich ihn ab. In der Wurzelhöhlung, vor der wir stehen geblieben waren, lag ein dunkles, formloses Bündel auf der Erde. Es schienen Lumpen zu sein, alte Kleider, die vor Dreck starrten.
»Du meine Güte«, sagte Dix angeekelt und hielt sich seine empfindliche Nase zu. Jetzt roch ich es auch: eine Wolke von Schweiß und scharfem Schnapsdunst und dazu ein säuerliches Aroma wie von Erbrochenem.
Die Lumpen bewegten sich sacht. Ein heiseres Brummen drang daraus hervor. Ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück, und Dix quollen beinahe die Augen aus dem Kopf.
»Da steckt ja noch jemand drin«, kicherte er. Wie zur Bestätigung streckte das Bündel einen kräftigen Arm aus, tastete über den Boden und griff nach einer Flasche,
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