AnidA - Trilogie (komplett)
große Pfützen in den Furchen, die die Wagen in den staubigen Boden gezogen hatten. Ida hatte ihre Schuhe ausgezogen und in den Bund ihres Rockes gesteckt und den Rock etwas geschürzt, um die Säume vor der Nässe zu schützen. Mit schlammbedeckten Füßen und schwarzgesprenkelten Waden gelangte sie endlich auf den Dorfplatz. Ihre Wangen waren gerötet, und der Atem ging ihr schneller vom Lauf und von der Aufregung. Sie knotete ungeduldig das aufgelöste Haarband neu und sah sich nach der Fremden um, die hier auf sie warten wollte.
Auf der Bank, die rund um den Stamm der alten Ulme neben dem Dorfbrunnen gezimmert war, saß eine Gestalt in heller Kleidung. Sie lehnte entspannt an der rissigen Rinde des Baumes, hatte die Beine in den weiten Hosen lässig von sich gestreckt und die Arme vor der Brust gekreuzt. Ihr Blick wanderte gemächlich über die schwatzenden Frauen am Brunnen und blieb schließlich auf Ida hängen, die auf einem Bein balancierend dabei war, sich hastig den schlimmsten Dreck vom Fuß zu kratzen.
»Anida?«, rief die Fremde sie leise mit einer weichen, ungewöhnlich tiefen Stimme an. Ida ließ ihren Fuß los, stand reglos da und blickte die Fremde an.
»Dorkas.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Die Frau nickte und klopfte einladend neben sich auf die Bank. Ida hockte sich befangen neben sie und versuchte vergeblich, sie nicht allzu aufdringlich anzustarren.
Dorkas hatte ein grobknochiges Gesicht mit von der Sonne dunkel gegerbter Haut wie eine der Bäuerinnen aus dem Dorf. Ihre kräftigen Hände waren schwielig und derb und die Gestalt untersetzt. Statt der üblichen Kleidung aus Rock, Mieder und Schürze steckten die stämmigen Beine der Frau in einer hellen, weit fallenden Hose, die ungemein bequem aussah. Darüber fiel ein locker geschnittenes Übergewand, das an den Seiten geschlitzt war und ihr bis zum halben Oberschenkel reichte. Sie hatte die Ärmel aufgekrempelt, dass ihre erstaunlich muskulösen Unterarme zu bewundern waren, und der Halsausschnitt des Gewandes war aufgeschnürt und ließ einen sonnenverbrannten Ansatz der Brust sehen. In dem dunklen Gesicht standen bemerkenswert helle, faltenumkränzte Augen unter dichten Brauen. Die starke, ein wenig schiefe Nase und eine helle Narbe, die über ihren linken Wangenknochen bis zum Ohr verlief, schienen Ida viel eher zu einem Mann zu passen, während der breite Mund im Gegensatz zu den eher groben Zügen weich und empfindsam wirkte und zu einem freundlichen Lächeln verzogen war.
Die Frau ließ Idas Musterung geduldig über sich ergehen. Ida blinzelte verlegen und griff unwillkürlich nach ihrem schweren Zopf. Das Lächeln der Fremden wurde breiter, und sie fuhr sich zur Antwort mit ihren stumpfen Fingern durch das kurz geschnittene dunkle Haar. Es war sogar kürzer, als die meisten Männer es zu tragen pflegten, und von ersten weißen Fäden durchzogen. In ihrem linken Ohrläppchen blitzte ein dünner silberner Reif mit einem winzigen grünen Stein daran.
»Also, da bin ich«, eröffnete Dorkas das Gespräch, als Ida keine Anstalten machte, ihrerseits etwas zu sagen. Ihre Augen verschwanden fast in einem Nest aus Fältchen, als sie das Mädchen ansah. »Du schaust drein, als würde ich dich jeden Moment beißen. Möchtest du hier mit mir sprechen, oder sollen wir uns lieber einen weniger öffentlichen Platz suchen?«
Ida räusperte sich verlegen. Die Frauen am Brunnen hatten schon einige Male auffällig zu ihnen hergesehen und steckten nun die Köpfe zusammen. »Vielleicht wäre es gut, wenn wir woanders hingingen. Aber ich weiß nicht, wo ...«
»Ah, überlass das der alten Dorkas«, unterbrach die Frau sie und erhob sich in einer geschmeidigen Bewegung. »Ich bin nicht zum ersten Mal hier. In fast jedem Dorf gibt es einen Platz, wo eine wie ich willkommen ist. Komm mit.«
Ida blickte stirnrunzelnd auf sie nieder, und die kleinere Frau blinzelte lächelnd zu ihr auf. »Du bist wirklich erstaunlich groß, meine Liebe. Wächst du noch?« Ida verneinte errötend. Ihre Körpergröße war ihr äußerst unangenehm, und sie wurde oft genug deswegen gehänselt. Sie schritt schweigend auf ihren langen Beinen neben Dorkas her und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Die Bewegungen der stämmigen Frau waren kraftvoll und gleichzeitig fließend und sprachen von Körperbeherrschung und trainierter Muskulatur. Was mochte wohl ihre Profession sein? Sie schien unbewaffnet zu sein, aber die Narbe in ihrem Gesicht sah nicht aus, als wäre
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