AnidA - Trilogie (komplett)
Murmeln der Hexen. Sie schienen eine komplexe Beschwörung zu weben, denn die Stimmen erklangen ohne Unterbrechung, mal allein, mal zu mehreren im Chor, woben einen Teppich aus Worten und Tönen, der Anna sanft einzulullen drohte. Die Wärme des Kaminfeuers lag wie eine dichte Decke auf ihr, und sie bemerkte, dass sie zu schwitzen anfing. Die Hitzewellen, die sie alsbald überfluteten, wurden immer stärker und regelrecht unangenehm. Anna setzte sich halb auf und zog die Wolldecke von der Liege, um sie zu Boden zu werfen, aber als sie mit ihrem Kopf emporkam, traf sie eine Empfindung wie ein Blitz.
Es war ein gleißend helles Bild, das vor ihren Augen auftauchte. Strahlend weiß vor einem bösartig schwarzen Hintergrund sah sie eine verhüllte Gestalt und vermeinte, aus einer Art Kapuze ein Paar Augen sie starr anblicken zu sehen. Sie musste blinzeln, weil ihr in dem grellen Licht Tränen in die Augen traten, und in diesem Moment schlug die Erscheinung um, verwandelte sich die weiße menschliche Gestalt in einen nachtschwarzen Vogel, dessen Gefieder das grelle Licht geradezu aufzusaugen schien. Anna schloss geblendet die Augen, und die Erscheinung verschwand und machte einem rötlichen Nachglühen Platz.
Sie musste einen Laut von sich gegeben haben, denn das Murmeln der Stimmen brach ab, und Schritte näherten sich ihrer Liege. Als sie die Augen wieder öffnete, kniete Meister Wilber neben ihr und sah sie voller Sorge an. Anna schüttelte leicht den Kopf und beantwortete seine unausgesprochene Frage mit einem leisen: »Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt.«
Der Heiler berührte kurz ihre Stirn und machte ein bedenkliches Gesicht. »Du bist ganz heiß«, sagte er. »Möchtest du einen Schluck Wasser?«
Anna stürzte den angebotenen Becher mit einem durstigen Zug hinunter. Das kühle Wasser rann durch ihre Kehle und brachte augenblicklich Erleichterung. Dankend nahm sie den erneut gefüllten Becher in Empfang und trank ihn in langsameren Schlucken ebenfalls leer.
Dann sah sie zu, wie Meister Wilber zum Tisch zurückkehrte, und erhaschte einen Blick auf das geheimnisvolle Kästchen, dessen Deckel nun offen stand. Das bläuliche Glühen, das sie zuvor schon erblickt hatte, drang daraus hervor. Anna reckte den Hals, um den Inhalt des Kästchens zu erspähen, aber von ihrem Platz aus war das unmöglich. Schon schloss Meister Wilber die Lücke, und das Gemurmel der Hexen begann aufs Neue.
Anna wurde schläfrig. Die erwartete Pein war bisher ausgeblieben, und ihr wurde nachgerade ein wenig langweilig. Sie dachte über die seltsame Vision nach, die ihr soeben zuteil geworden war. War sie, ohne es zu bemerken, eingeschlafen und hatte den Traum vom Nachmittag weitergeträumt? Was hatte es mit dem großen Vogel auf sich, der ihr so seltsam vertraut erschien? Und die verhüllte Gestalt, die den Eindruck erweckt hatte, ihr etwas mitteilen zu wollen – hatte sie im Schatten der Kapuze nicht einen dunklen Stern auf ihrer Stirn erblickt? Sie spürte, wie der Schlaf sich ihrer bemächtigen wollte, und wehrte sich dagegen. Mit wachen Sinnen hatte sie der Prozedur beiwohnen wollen – auch, um Korben davon berichten zu können. Der Freund, zu dem er sie bringen wollte ... Ob das ein ähnlich kauziger Mensch sein würde wie Mika, der Enkel des angeblichen Schwarzmagus? Ihre Gedanken kreisten noch eine träge Weile um den sagenumwobenen Schwarzen Orden und die Geschichten, die sie als Kind darüber vernommen hatte, und dann sank sie in einen leichten Schlummer.
Die murmelnden Stimmen wurden lauter, und ihre unverständlichen Worte klangen befehlend. Die Oberste Hexe stieß einen lauten Ruf aus, worauf das Licht aus dem Kästchen grell aufflammte. Ein schneidender, reißender Schmerz in ihrem Kopf und ihrer Brust weckte Anna aus dem oberflächlichen Schlummer und ließ sie aufschreien. Der Schmerz verstärkte sich, wurde unerträglich. Es war, als trachtete eine eiserne Klaue danach, ihr bei lebendigem Leibe das Herz herauszureißen. Sie schrie wieder, und gleichzeitig mit ihrem Schrei flammte das Licht so hell auf, dass die Hexen vom Tisch zurückwichen und ihre Augen bedeckten. Anna sah, wie die Oberste Hexe sich wie gegen einen starken Wind oder schnell strömendes Wasser zu dem Tisch zurückzukämpfen versuchte, die Hände ausgestreckt, um das Kästchen zu schließen. Mit blendender Plötzlichkeit wusste Anna, dass diese Handlung ihr Schaden zufügen würde. Sie richtete sich mühsam auf, dieweil immer noch
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