AnidA - Trilogie (komplett)
sich Anna immer noch jedes Mal die Finger verbrannte.
In der folgenden Nacht wurde Anna wach, weil der Mond auf ihr Gesicht schien. Sie blinzelte in das erstaunlich helle Licht und gähnte verdrossen, während sie den Kopf drehte. Auf dem Hocker neben ihrer Tür saß jemand, wie sie ohne jedes Erschrecken registrierte. »Hallo«, sagte sie verwundert.
»Hallo«, antwortete eine sanfte Stimme. Anna strengte ihre Augen an, aber das Licht des Mondes erleuchtete die dunkle Ecke neben der Tür nicht genügend, dass sie Einzelheiten hätte unterscheiden können. Sie meinte, einen Schimmer weißen Haars zu erblicken und wollte sich aufrichten, um die Gestalt besser sehen zu können, aber ihre Glieder waren matt wie im Schlaf und ließen keine größere Bewegung zu. Ohne deswegen Beunruhigung oder gar Angst zu verspüren, legte sie den Kopf in die Hand und fixierte den Hocker und die sitzende Gestalt. Ihr unerwarteter Besuch war offenbar groß gewachsen, und etwas in der Haltung des leicht geneigten Kopfes weckte eine vage Erinnerung in Anna.
»Wer bist du?«, fragte sie. »Und was willst du von mir?«
Die Gestalt seufzte leise. »Mellis meint es wirklich gut«, sagte sie. »Aber diesmal solltest du auf ihren Rat lieber nicht hören. Es gibt zu vieles, was sie nicht weiß.«
Anna schluckte kurz. Die Stimme, die sie vernahm, war ihr bekannt, aber es war vollkommen unmöglich, dass diese Stimme hier zu ihr sprechen konnte. »Das ist ein Zauber«, sagte sie laut.
Ihre Besucherin lachte. »Natürlich«, erwiderte sie fröhlich. »Du bist die Hüterin, und ich – wir – waren es einmal. Das ist der Zauber.«
»Wer bist du?«, fragte Anna erneut. Ihre schlafmatten Glieder ließen immer noch keine Bewegung zu. »Ich möchte dich sehen.«
Die Gestalt ließ ein Nicken erahnen und erhob sich, um ein paar Schritte näher zu treten. Das Mondlicht fiel auf ihr Gesicht, und Anna unterdrückte mühsam einen Schrei.
»Hallo, meine Enkelin«, sagte die Frau sanft und ging neben dem Bett in die Hocke. »Du schläfst, weißt du? Ich kann dich nicht erreichen, während du wach bist – und es ist schwer genug, dich zu erreichen, wenn du schläfst.«
»Ich träume das«, sagte Anna erleichtert. »Du bist nicht wirklich meine Großmutter, richtig?«
Die Frau schüttelte den Kopf und lächelte Anna mit einem vertrauten und gleichzeitig fremden Gesicht an. »Du bist die Hüterin«, sagte sie. »Aber du vernachlässigst deine Pflicht. Ich weiß, dass du daran keine Schuld trägst, aber du musst etwas unternehmen. Wir sind immer noch getrennt, und das gefährdet das Gefüge der Welten.«
Ihre Gestalt verzerrte sich, als würde Anna sie durch Wasser erblicken. Zwei Frauen standen vor ihr und streckten ihre Hände nach ihr aus. »Die Schwestern müssen zusammenkommen, hörst du?«, sagte die Stimme, auch sie verdoppelt und verschoben. »Die Krähe kann dir helfen – aber du brauchst sie nicht. Du kannst es allein schaffen. Füge zusammen, was getrennt ist. Rufe die Herzen. Du bist ihre Hüterin.«
Die Stimmen verklangen, und die doppelte Gestalt war verschwunden. Anna stöhnte und fuhr auf. Mondlicht fiel durch das Fenster und malte einen breiten Streifen auf den Fußboden vor ihrem Bett. Der Hocker neben der Tür war leer. Anna wischte sich den Schweiß von der Stirn und sank mit einem Aufseufzen in ihr Kissen zurück. »Welch ein Traum«, murmelte sie, und im Einschlafen hörte sie den krächzenden Ruf einer Krähe.
Im Obstgarten herrschte ungewöhnlich rege Betriebsamkeit, als Anna dort nach dem Unterricht nach einem Plätzchen suchte, an dem sie sich ungestört noch ein wenig in das Buch vertiefen konnte, das Meister Wilber ihr in die Hand gedrückt hatte. Den Obstgarten hatte sie am späten Nachmittag sonst immer fast für sich, und sie genoss es, im Schatten unter einem der großen Apfelbäume zu sitzen und zu lernen, umgeben von süßen Düften und dem Summen der Hummeln und Bienen. Heute aber waren Novizinnen und Küchenhilfen eifrigst damit beschäftigt, Leitern an die Bäume zu stellen und Netze auszubreiten, um die ersten Äpfel und Pflaumen zu ernten.
Anna seufzte enttäuscht und machte kehrt. In der hintersten Ecke des Küchengartens, dort, wo der dichte Holunder über die Mauer hing, lehnte sie sich an die sonnenwarmen Steine und schloss für einige Minuten die Augen. Seit der Heiler ihr ihre Erinnerungen wiedergegeben hatte, fühlte sie sich kräftiger, aber gleichzeitig auch unruhiger. Heute war wieder solch ein Tag,
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