AnidA - Trilogie (komplett)
an dem sie den Ruf der beiden Herzen so stark spürte, dass sie vor Sehnsucht fast zersprang. Sie atmete tief ein und wieder aus und dehnte und streckte sich wie eine Katze in der warmen Sonne. Die Frau in ihrem Traum, die beinahe ihre Großmutter gewesen war, hatte ihr geraten, die Krähe aufzusuchen. Aber der Gedanke machte ihr Angst, ohne dass sie hätte benennen können, wieso. Die Frau war freundlich zu ihr gewesen und hatte eigentlich kaum etwas Beängstigendes an sich gehabt. Und dennoch, gerade in der so alltäglichen Umgebung dieser Küche war etwas Fremdes und Verstörendes gewesen, das Gefühl einer Präsenz, die nicht ganz von dieser Welt war – oder mehr, als diese Welt vertragen konnte, ohne dabei ein wenig aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Anna zuckte zusammen und öffnete die Augen, denn dicht über ihrem Kopf war etwas auf der Mauer gelandet. Sie blickte empor, direkt in die glänzend schwarzen Augen einer riesigen Krähe.
»Uh«, machte Anna unwillkürlich. Die Krähe neigte den Kopf und öffnete ihren mächtigen Schnabel zu einem spöttischen Krächzen.
Dann hob sie die Schwingen und sprang elegant von der Mauer, um vor Anna auf dem Boden zu landen. Anna beugte sich ein wenig vor, aber der große Vogel wich nicht zurück. Ohne jede Scheu saß er da und sah ihr ins Gesicht.
»Was willst du von mir?«, fragte Anna und erwartete beinahe eine Antwort. Aber aus dem Schnabel des Vogels kam wieder nur das spöttisch klingende, heisere Krächzen. Der Bann schien gebrochen, die Krähe breitete erneut die Flügel aus und flog mit einigen kräftigen Schlägen davon, auf das Ordenshaus zu. Anna sah ihr nach, bis sie hinter einer Hausecke verschwand, schüttelte dann den Kopf und lachte über sich selbst. Hatte sie ernsthaft erwartet, der Vogel gäbe ihr in menschlicher Sprache eine Antwort?
Sie streckte sich und griff nach ihrem Buch. Die Beschäftigung mit den Erkrankungen des Magens und Gedärms würde sie ein wenig ablenken, auch wenn sie ihr nicht dabei helfen würde, endlich eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht hatte sie die Krähe ja auch nur geträumt. Oder ihre Traum-Großmutter hatte ihr eine echte Krähe geschickt, um sie zu mahnen und ihr einen Hinweis zu geben, was zu tun sei. Anna schob den Gedanken energisch beiseite und schlug das Buch irgendwo in der Mitte auf. Magenverstimmung, die von verdorbener Nahrung herrührte. Mal sehen, was der Heiler, der dieses Buch geschrieben hatte, dagegen zu unternehmen gedachte ...
Am Abend musste sie wohl oder übel endlich wieder einmal zu ihrem Unterricht bei der geduldigen Birgid, die sich in den vergangenen Wochen mehrmals sanft und nachdrücklich darüber beklagt hatte, dass Anna sich nicht mehr bei ihr blicken ließ. Es hatte wenig Sinn, Birgid ernstlich zu verärgern, damit hätte Anna sich nur eine weitere Strafpredigt der Obersten Hexe eingehandelt. Also biss sie in den sauren Apfel und suchte Birgid in dem kleinen Unterrichtsraum auf, in dem sie gewöhnlich um diese Stunde zu finden war.
»Ah, Anna«, rief die Hexe erfreut und klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du dich überhaupt noch an mich erinnerst. Meister Wilber spannt dich doch wohl nicht zu sehr ein?«
Anna verneinte verlegen und setzte sich zu ihrer Lehrerin. Birgid nahm ihre Hand und hielt sie eine Weile lang prüfend zwischen ihren Handflächen. Dann nickte sie und lächelte Anna zu.
»Fang an. Du weißt doch noch, wie es geht?«
Anna seufzte und schloss die Augen. Sie versenkte sich mit einigen tiefen Atemzügen in ihr Innerstes und tauchte hinab zu dem Kern, der ihre magischen Kräfte enthielt. Dabei spürte sie Birgids Anwesenheit hell und warm an ihrer Seite.
Ein mattes Licht leitete sie durch die Dunkelheit. Vor ihr tauchte die große, schimmernd weiße Perle auf, als die der Kern ihrer Kraft sich ihr darzubieten pflegte.
Wie immer blieb sie stehen, bevor sie in seiner Reichweite war, und sammelte sich noch einmal.
Berühre ihn, flüsterte Birgids Stimme. Spüre seine Kraft. Es ist deine Kraft, dort ist dein innerstes magisches Wesen konzentriert. Fühle es.
Anna streckte ihre Geist-Hände nach der Perle aus und fühlte das vertraute Prickeln in den mentalen Fingern. Die Perle wuchs vor ihr empor, bis sie sie überragte. Jetzt kam der Moment, vor dem sie sich immer fürchtete.
Geh hinein, erklangen die verhassten Worte.
Anna seufzte unhörbar und trat vor. Die Perle wich zurück. Anna konzentrierte sich und hielt die
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