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Anidas Prophezeiung

Anidas Prophezeiung

Titel: Anidas Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Mellis, die wohl ihre engste Vertraute war, konnte sich einen Reim darauf machen. Ida brummte missvergnügt und schloss die Augen. Im Einschlafen meinte sie, seltsam fremdartigen, hohen Gesang zu hören, der süß und lockend an ihre Ohren drang. Darüber nachsinnend, wieso dieser Gesang ihr so vertraut erschien, schlummerte sie endlich ein.
    Lange vor dem Morgengrauen erwachte sie und schlüpfte in mehrere Schichten ihrer wärmsten Kleider. Sie packte ihr Bündel zusammen und steckte die Reste des gestrigen Abendessens hinein, die noch auf dem Tisch standen. Dann warf sie sich den schweren, warmen Umhang um, den Ysabet für sie geflickt hatte, und blickte sich in der Kammer um. Sie hatte alles, was sie brauchte.
    Leise schloss sie die Tür des Gästehauses und trat in die kalte, stille Nachtluft hinaus. Ihr Atem stand in einer weißen Wolke vor ihrem Mund. Sie schlug fröstelnd den Kragen des Umhangs vor ihr Gesicht. Dann schlüpfte sie in die Schneeschuhe und begann zielstrebig, den steil ansteigenden Weg in die Berge hochzustapfen.
    Als die besorgte Mellis am anderen Tag Ylenia von Idas rätselhaftem Verschwinden benachrichtigte, konnte ein Suchtrupp ihre Spuren noch weit in die Berge hinauf verfolgen, ehe er sie im neu einsetzenden Schneegestöber endgültig verlor. Ida war fort und blieb auch in den folgenden Tagen trotz aller Bemühungen der Weißen Schwesternschaft, sie ausfindig zu machen, verschwunden .

    Eddy

    ~ 10 ~

    Ich fror erbärmlich. Seit ich hier im Lager C eingeliefert worden war, hatte ich ordentlich an Gewicht verloren. Wenn jemals in meinem Leben die Beschreibung »Haut und Knochen« auf mich zugetroffen haben sollte, dann jetzt.
    Zumindest hatte es in den ersten Wochen hier keiner geschafft, mir meine Lederjacke abzunehmen, obwohl es einige ernsthafte Versuche gegeben hatte. Meinem letzten Angreifer hatte ich den Kiefer gebrochen, und wenn Big Mama mich nicht aus irgendeinem Grund in ihr schwarzes Herz geschlossen hätte, wäre ich dafür sicherlich sofort in Dunkelhaft gewandert. Aber Big Mama hatte sich vor dem Aufseher aufgebaut und ihm klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er seine dreckige Nase gefälligst aus internen Angelegenheiten heraushalten solle. Kenny sei gestolpert und auf die Fresse gefallen, sonst nichts. Selbst die Aufseher legten sich lieber nicht mit Big M an, und dieser hier machte darin keine Ausnahme. Er zog den Schwanz ein und verpisste sich. Kenny und sein gebrochener Kiefer wurden zum Hospital gebracht und nicht mehr gesehen. Es ging das Gerücht, dass ernsthaft verletzte Internierte sofort eine Dosis L bekamen, aber ich nahm eher an, dass sie ihn nur in einen anderen Block verlegt hatten, um weitere Konflikte zu vermeiden.
    Ich hatte Glück, in diesem Lager und in Block Vier gelandet zu sein. Big Mama war in Ordnung, und sie sorgte für Ordnung in ihren Blocks. Der alte Stinker, der sich die andere Hälfte des Lagers unter den Nagel gerissen hatte, legte weit weniger Wert auf einen gesitteten Umgangston, hatte ich mir sagen lassen.
    »He, Eddy«, hörte ich Stell rufen. Ich drehte mich um und sah ihr entgegen. Die Kleine war ein echter Schatz, sie teilte sogar hin und wieder eine ihrer kostbaren Zigs mit mir. Dafür gab ich jedem eins auf die Nase, der es wagte, sie zu belästigen. Ein guter Deal, nicht zuletzt, weil wir uns nachts gegenseitig warm hielten. Sie kam eilig auf mich zu, und ich sah, wie ihre zerrissenen Hosen in dem scharfen Wind um ihre dünnen Beine flatterten. Süßer Iovve, so kalt wie in diesem Winter war es schon seit Jahren nicht mehr gewesen!
    »Eddy«, wiederholte sie atemlos und ließ sich von mir in den Arm nehmen. Sie schmiegte ihren strohblonden Kopf in meine Achselhöhle und fuhr mit den Händen unter meine Jacke. Ich rubbelte über ihren Rücken und drückte sie eng an mich.
    »Warum bist du nicht bei der Arbeit?«, fragte ich. Stell gehörte zu den Glücklichen, die ihre zwei Jahre Probezeit ohne Strafen hinter sich gebracht hatten und damit berechtigt waren, sich zehn Stunden am Tag in einer der Baracken irgendwelchen stumpfsinnigen Tätigkeiten hinzugeben. Trotzdem beneidete ich sie. Es war immerhin eine Art von Abwechslung, davon gab es hier im Lager nicht allzu viel. Außerdem verdiente sie dabei etwas, einen Hungerlohn zwar, aber sie konnte sich Zigs kaufen oder eine Extraration Brot, und ab und zu sogar etwas Synalc, das auf geheimnisvollen Wegen ins Lager gelangte. Eine Frisch-Internierte wie ich, die noch in der Probezeit

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