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Anidas Prophezeiung

Anidas Prophezeiung

Titel: Anidas Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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wirklich ihr Name. Es gab mir zu denken. Sie hatte Ylenia »Tante« genannt. Sie hieß Anida. Sie sah aus wie ich ...
    Der allgemeine Aufbruch rettete mich vor der Schlussfolgerung. Ich fühlte mich ein wenig schwach. Ida – Anida – nahm wortlos meinen Arm und gab mir Unterstützung. Ich wollte mich impulsiv losmachen, aber dann nahm ich mich zusammen. Sie war bisher sehr freundlich zu mir gewesen, und ich hatte sie nur angefaucht. Sie konnte schließlich nichts dazu, dass sie mit meinem Gesicht herumlief. Also ließ ich es für heute zu, dass sie meinen wackeligen Beinen ein wenig Unterstützung gab, und wenn ich mich dann erst einmal wieder kräftiger fühlte, konnte ich mich immer noch darum kümmern, ihrem Gesicht einen neuen Anstrich zu verpassen.
    Die Ehrwürdige Oberschwester führte uns zu einem kleinen Arbeitszimmer im Ostflügel des anscheinend ziemlich ausgedehnten Gebäudes. Die schienen hier viel für den rustikalen Charme von Synholz und Naturstein übrig zu haben – oder von echtem, an einem richtigen Baum gewachsenen Holz, wenn ich über mein Erlebnis beim Frühstück nachdachte.
    Auf dem Weg stieß die rothaarige Frau mit dem Schweif zu uns. Sie wickelte ihn wie zur Begrüßung um das Ding, das aus Tallis' verlängertem Rücken wuchs, und zu dem ich gar nicht hinsehen mochte, und beide fingen an, sehr schnell in einer mir unbekannten Sprache miteinander zu reden.
    Die Obernonne verstand sie anscheinend, denn sie sagte etwas ungeduldig: »Ja, meinetwegen. Aber du hältst den Mund, Mellis.« Die rothaarige Frau nickte gehorsam. Ida drückte meinen Arm. Ich sah ein Lächeln über ihr Gesicht huschen. Wir wurden alle um den Tisch herumgruppiert. Ylenia faltete ihre langen Hände und sah darauf nieder. Oh nein, jetzt wird gebetet!, dachte ich peinlich berührt. Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich dieses ganze scheinheilige Nonnen-Getue verabscheute.
    Ylenia blickte auf und sah mich an. Ihre Augen hatten genau wie die meiner Großmutter die beunruhigende Angewohnheit, die Farbe zu wechseln. Im Moment sahen sie aus wie rauchiger dunkler Topas. Ich sah auf die silbern-schwarze Strähne, die sich aus ihrem unordentlichen Knoten gelöst hatte, und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Warum, bei allen Raumteufeln, liefen hier Frauen herum, die meiner Großmutter und mir selbst so zum Verwechseln ähnlich sahen? Wo war ich hier gelandet, hatte ich wirklich den Verstand verloren? Ich hatte von Experimenten gehört, die mit Internierten gemacht wurden, vielleicht war das hier eins davon.
    »Ida, vielleicht solltest du beginnen«, eröffnete Ylenia das Gespräch. »Du hast uns bisher nur ein paar Eindrücke von deinem Erlebnis in den Bergen geben können. Glaubst du, deine Erinnerungen sind inzwischen klarer?«
    Ich sah zu meiner Doppelgängerin hinüber. Ihr kantiges, nicht besonders hübsches Gesicht wirkte ernst und fast ein wenig böse. Sie rieb sich mit einer unbewussten Geste über die kräftige Nase und zog die Brauen zusammen.
    »Nicht viel klarer«, begann sie zögernd. »Ich kann dir nicht erklären, wo ich während der ganzen Zeit gewesen bin, Tante Ylen. Für mich ist es immer noch so, als wäre ich nur einen, vielleicht auch zwei Tage fort gewesen.« Sie verstummte und strich sich das scheckige Haar zurück. Wie hatte ich als Kind dieses Haar gehasst! Ständig wurde ich deswegen gehänselt. Das Erste, was ich getan hatte, als ich mich aus dem Waisenhaus verdrückt hatte, war, mir das Haar zu färben. Während meines Jahres im Lager war natürlich alles rausgewachsen, und es sah nicht so aus, als hätten die Zurück zur Natur-Schwestern hier so was wie Färbemittel in ihren Badezimmerschränken.
    Ida hatte inzwischen eine unglaubliche Story von weißen Wölfen und Bären und seltsamen Stimmen in einem Kristallpalast von sich gegeben. Ich hatte sie nur am Rande registriert, weil meine Gedanken anderswo waren, aber das Stichwort »Kristallpalast« erregte meine Aufmerksamkeit. Meine Kopie schien einen ähnlich verworrenen Trip hinter sich zu haben wie ich, aber anscheinend hatte sie nicht den Kater, an dem ich immer noch herumlaborierte. Die Glückliche. Kam wahrscheinlich von der gesunden Ernährung mit all diesen Tierleichen und regelmäßiger Bewegung in der vielen frischen Landluft.
    Alle starrten tiefsinnig Löcher in die Luft. Tallis zog nervös ihren schwarzen Schweif durch die Finger. Ich ertappte mich dabei, dass ich wie gebannt hinsah. Endlich räusperte sich Ylenia und fragte: »Du hast

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