Anidas Prophezeiung
nebeneinander auf das Haupthaus zu. Ida musterte Dorkas. Die stämmige Frau schien in den vergangenen Jahren nur noch zäher und stärker von Wind und Wetter gegerbt worden zu sein. Ihre dunkle Haut erinnerte an altes Leder, von dem sich nur die Narbe auf ihrer Wange hell abhob. Das kinnlange Haar war beinahe vollständig ergraut und die Falten um ihre hellen Augen tiefer eingekerbt und zahlreicher als zuvor.
Die winzige Grennach riss sie aus ihrer Betrachtung. »Du willst wirklich immer noch, dass wir deine Schwurschwestern sein sollen?«, fragte sie. »Ich dachte, du hast Mengen von Freundinnen, die sich darum reißen, das für dich zu tun.«
»Ja, das stimmt wohl. Aber ihr beide habt mich hierher geleitet und euch um mich gekümmert, und ich habe euch sehr gern.« Ida errötete ein wenig unter ihrer braunen Haut. »Ihr seid meine engste Familie«, setzte sie verlegen hinzu.
Dorkas legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich fühle mich sehr geehrt. Und ich freue mich, dass du den Schwur endlich ablegen willst. Ich fürchtete schon ...« Sie unterbrach sich und lachte trocken auf. »Jetzt werde ich auf meine alten Tage auch noch rührselig«, knurrte sie. »Also abgemacht, Kleine. Und jetzt müssen wir uns schleunigst bei Catriona zurückmelden. Sehen wir uns heute Abend in der Halle?«
»Heute Abend in der Halle. Ihr müsst mir erzählen, was ihr alles erlebt habt«, erwiderte die Stallmeisterin herzlich.
»Bis heute Abend, Ida«, winkte Mellis und beeilte sich, auf ihren kurzen, flinken Beinen hinter ihrer Freundin herzulaufen, die bereits energisch den langen Gang entlangschritt.
Ihre Pflichten hielten sie am nächsten Vormittag genügend in Atem, dass sie nicht zum Grübeln kam. Die Hufschmiedin und ihr Lehrling waren wieder einmal in die Schmiede des Gildenhauses eingezogen, beschlugen die jungen Pferde und erneuerten die schadhaft gewordenen alten Eisen.
Mittags zog sich Ida ermattet in den kleinen Innenhof zurück, in dem einige Büsche und eine Birke neben einer plätschernden künstlich angelegten Quelle für etwas Schatten und frischere Luft sorgten. Im Hochsommer war es trotz des salzigen Windes, der vom Meer her kam, oft so drückend heiß in der Stadt, dass es sogar ihr zu viel wurde, obwohl sie doch die viel heißeren Sendrasser Sommer gewöhnt war. Sie streckte sich im Schatten des Baumes auf dem Gras aus und schloss für einige Minuten die Augen.
»Störe ich?«, fragte eine Stimme. Ida schreckte hoch und rieb sich verlegen die Augen.
»Nein, nein«, nuschelte sie. »Ich wollte eigentlich nicht einschlafen.«
Sie reckte sich, und Dorkas ließ sich neben ihr auf den Boden sinken. »Ah, das war immer mein liebster Platz.« Dorkas zog ihre Hand durch das kühle, klare Wasser und bespritzte Ida, die mit angezogenen Knien dasaß.
»Ich habe dich wirklich vermisst«, sagte Ida. »Es fühlt sich einfach nicht richtig an, wenn du nicht hier bist.«
Dorkas lachte. »Ich bin doch höchstens zwei Monate im Jahr in Tel'krias, wenn überhaupt. Deine Tante hetzt mich schließlich andauernd kreuz und quer durchs Land.«
»Das meine ich nicht«, erwiderte Ida. »Du und Mellis, ihr wart noch nie so lange fort, ohne dass wir wussten, was mit euch ist, ob es euch gut geht, ob ihr überhaupt noch am Leben seid.« Sie verstummte und blickte auf das Büschel Gras in ihren Fingern, das sie gedankenlos ausgerupft hatte. Dorkas sah sie an, ohne zu blinzeln. Ida ließ die Halme zu Boden rieseln und schwieg.
»Du hast mir auch gefehlt, Kleine«, sagte Dorkas schwerfällig. Ihre hellen Augen verschwanden fast in dem Faltenkranz der ledrigen Haut, als sie Ida anlächelte. »Willst du jetzt die Geschichte hören?«, fragte sie. Ida nickte, und Dorkas lehnte sich gegen den Stamm der Birke.
»Deine Tante hatte uns beauftragt, ein wenig für den Weißen Orden zu spionieren. Das haben wir schon öfter getan, aber diesmal war der Auftrag schwieriger als sonst. Ylenia wollte, dass wir uns bis zur Schwarzen Zitadelle durchschlagen und so viel darüber herausfinden wie möglich, weil Gerüchte kursierten, dass die Zitadelle zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder bewohnt sei. Die weiße Schwesternschaft war sehr beunruhigt darüber. Die Zitadelle war schließlich die Hochburg des Schwarzen Ordens.« Dorkas kniff die Augen zusammen und schien in Gedanken in die Vergangenheit zurückzugehen.
»Es gibt ein Sicheres Haus in Korlebek, das Gasthaus ›Zum Herzen der Welt‹«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Der Wirt ist
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