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Animal Tropical

Animal Tropical

Titel: Animal Tropical Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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Bild, versteckt unter einem schwarzen Stofffetzen, auf ihrem Altar neben all den übrigen Heiligenbildern und einem Kruzifix stehen. Als ich einmal allein im Zimmer war, schnüffelte ich ein bisschen herum. Sie hatte ihre katholischen Heiligen und ihre afrikanischen Orishas vermischt. Ich hob das schwarze Tuch, und da war auch Dracula. Dann stellte ich alles wieder an seinen Platz und sagte darüber kein Wort zu ihr. Ein paar Wochen später sprachen Gloria und ich über die Goldkette, die ich mir kaufen wollte.
    »Seit Jahren schon wünsche ich mir eine, aber nie habe ich das nötige Geld.«
    »Kauf dir eine billige.«
    »Ich trage keinen Ramsch, Gloria. Sie muss schon dick sein, aus gutem Gold. Eine Kette für Männer. Und mit einem Kruzifix aus Gold.«
    »Nein, Süßer, ohne Kruzifix.«
    »Warum?«
    »Lass das Kruzifix weg, sonst machst du dich zu edel. Wie ein Geck.«
    »Ja?«
    »Ja, klar. Man muss im Innern den Teufel behalten. Wenn du zu edel bist, wirst du niedergemacht.«
    Während ich so an die Decke starrte, musste ich daran denken: »Wenn du zu edel bist, wirst du niedergemacht.« Genau. Ich muss mich erholen und genauso diabolisch weitermachen wie bisher. »Der Scheißkerl, den ich in mir trage, ist in diesem Land eingepennt«, dachte ich. »Ich muss weg von hier, und zwar rasch. Oder ich werde zum Vollidioten.«
    Manchmal möchte ich mich am liebsten in ein Kloster zurückziehen, fern von allem, aber ich weiß, dass ich so viel Einsamkeit auch nicht ertragen könnte. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft erdrücken mich. Ich versuche, wenigstens das eine oder andere in den Griff zu bekommen, aber es ist zwecklos. Nie habe ich je irgendetwas im Griff. Und so bin ich weiter hemmungslos und verängstigt. Vor allem nachts. Ich schlage der Hydra die Köpfe ab, aber es wachsen immer wieder neue nach. Offenbar gibt es keine Lösung. Na ja, wie jeder habe auch ich eine lange Liste von Konflikten, Problemen, Hassgefühlen, Traumata und Scherereien aller Art. Ich würde sie gern verdrängen und in Reinheit leben, aber das kann ich nicht. Im Grunde will ich gar nicht. Glücklich zu leben ist ein naiver Wunsch. Manchmal verstehe ich, dass ich das alles immer mit mir herumschleppen werde. Wie Tätowierungen ist es tief in die Haut eingeritzt und kann nicht mehr ausgelöscht werden. Es ist für immer da. Ich atmete tief durch und schlief schließlich wieder ein, glaube ich.
    Am nächsten Tag gingen wir zum Angeln an den Kanal. Nachdem wir eine Stunde lang die Schnur ausgeworfen hatten und nichts angebissen hatte, kam ein bisschen kalter Wind auf, und wir brachen auf. Für den Heimweg hatten wir viel Zeit. Wir machten einen Umweg durch eine sehr schmale Straße und besichtigten die Reste eines Bauernhofes aus der Eisenzeit. Der archäologisch bedeutsame Ort ist denkmalgeschützt. Er stammt aus der Zeit um etwa 700 v. Chr. Vielleicht noch früher. Nur noch die Mauern aus riesigen Steinen der vier Gebäude sind vorhanden. Man nimmt an, ein Feuer habe den Hof zerstört. Die Archäologen konstruierten ein Modell. Es waren einst vier große Gebäudeflügel von ungefähr fünfzig Meter Länge mal sechs, sieben Meter Breite. Sehr niedrige, einfache Wände: nur aufeinander geschichtete Steine, darauf ein Dach aus Holz und Stroh. Alle wohnten zusammen: Männer, Frauen, Kinder, Kühe, Schafe, Schweine. Sie fertigten ein paar Gegenstände aus Eisen an, brauten Bier aus Getreide, kochten Suppen aus Kräutern und Zwiebeln. In einigen dieser Häuser lebten drei oder vier Männer und eine oder zwei Frauen. Sie liebten sich quer durcheinander, nehme ich an, hatten Kinder untereinander und wussten nie, wer jeweils der Vater war. Und sie waren bestimmt unendlich dankbar für einen einfachen Becher Bier oder ein bisschen Wärme oder für die Schneeschmelze und den Frühlingsanfang oder für die Befriedigung ihrer sexuellen Begierden. Sie werden jung gestorben sein. Eine Grippe oder eine Zahninfektion konnte sie unversehens dem kurzen Gedächtnis der Vergessenheit anheim geben. Sie wussten, dass sie nicht von größerer Bedeutung waren als irgendeines der Schweine, mit denen sie Unterkunft, Wärme und Essen teilten.
    Der Hof liegt inmitten eines dichten, herrlichen Waldes. Schweigend wanderte ich darin umher und nahm diese Art zu leben wie einen Lichtstrahl in mir auf. Zweitausendsiebenhundert Jahre sind vergangen. Nichts. Ein Hauch in der Galaxie. Eine Tausendstelsekunde des Universums. Der Moment hat ausgereicht, um uns mit

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