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Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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duften nicht. Ihre ganze Faszination liegt in der Form. Und in ihrer Seltenheit«, sprach ich die Blondine an, die sich über einen Kaktus gebeugt hatte und die fleischfarbene Blüte beschnupperte. Die junge Frau drehte sich um, streckte die Hand aus und sagte: »Ich bin Evelyn.«
    Sie wirkte offen und sympathisch. »Hallo.« Ich ergriff ihre Hand. »Ich würde gerne sagen: Schön, dass du da bist. Aber es muss wohl eher heißen: Schön, dass du nicht mehr da bist, wo du herkommst.« Ich drehte mich um und ging zurück ins Gebäude. Auch die anderen drückten ihre Zigaretten aus und folgten langsam.
    Nachdem das Stuhlrücken beendet war und alle wieder ruhig saßen, begann Schmelzer: »Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Irvin Schmelzer. Ich bin Professor für Biochemie, genauer gesagt, Molekulargenetiker. Meine Kollegen und ich werden uns um Ihr leibliches Wohl kümmern und die Behandlung vornehmen, die unabdingbare Voraussetzung für Ihre Ausbildung ist. Tina hat mir vor der Sitzung erzählt, dass einige unausgegorene Horrorgeschichten im Umlauf sind. Ich versuche, Ihnen jetzt alles ganz genau zu erklären. Sie können mich danach selbstverständlich befragen. Also: Sie wissen bislang, dass Sie ausgebildet werden, um als eine Art Frühwarnsystem bei möglichen Gefahren für Leib und Leben hoher Regierungsmitglieder eingesetzt zu werden. Frauen haben eine gewisse Sensibilität für Gefahren und außergewöhnliche Situationen, sagen wir einfach: Dinge, die in der Luft liegen. Historische Betrachtungen über wahrsagende weibliche Wesen wie die griechische Pythia oder auch Betrachtungen über die Hintergründe der mittelalterlichen Hexenverbrennungen wollen wir jetzt einmal außer Acht lassen. Ich möchte ebenso wenig darauf eingehen, dass Männer die Basis für diese Sensibilität ebenfalls in sich tragen, ihnen jedoch aufgrund soziologisch zu betrachtender Prägungen der Zugang dazu weitgehend verschüttet ist. Was uns hier interessiert und womit wir uns beschäftigen, ist erst einmal die biochemische Verstärkung dieser Fähigkeit, zum Zweiten dann die Entwicklung, die Kontrolle und der gezielte Einsatz. Sie alle sind ausgewählt worden, weil bei Ihnen die Voraussetzungen für ein großes Potenzial dieser Sensibilität gegeben sind: ein hoher Emotionaler Quotient, der auf prinzipielle Empfänglichkeit für feinsinnige Strömungen hindeutet, wie auch ein hoher Intelligenzquotient, der notwendig ist, um zu kontrollieren und zu interpretieren. In der ersten Phase werden Sie medizinisch behandelt. Das ist vermutlich der Punkt, der Sie alle verunsichert und über den viel Unsinn geredet worden ist in den letzten Tagen.«
    Einige der Frauen schauten sich an, andere blickten betreten zu Boden oder unbeteiligt zur Decke.
    Schmelzer fuhr fort: »Kommen wir gleich zum Kern der Ängste. Sie wissen inzwischen, dass die Frauen hier sich selbst Ratten nennen, offiziell heißen sie Sensoren, was ich nur wenig passender finde. Sie kennen den alten Spruch ›Die Ratten verlassen das sinkende Schiff‹? Hat sich mal eine von Ihnen Gedanken darüber gemacht, was hinter dieser Redensart steckt?
    Ratten sind von jeher ein Frühwarnsystem gewesen. Man erzählte sich schon vor Jahrhunderten Geschichten, die lange in den Bereich der Legenden verwiesen wurden. Geschichten von Ratten, die scharenweise Schiffe verließen, sich ins offene Meer stürzten und davonschwammen, obwohl es keinerlei Anzeichen für einen Sturm oder sonst ein bevorstehendes Unheil gab. Blauer Himmel, strahlende Sonne, ruhige See. Mit der Zeit haben die Matrosen gelernt, die Warnung der Ratten ernst zu nehmen. Denn die von den Ratten verlassenen Schiffe waren dem Verderben preisgegeben, sie sanken unweigerlich ein, zwei, drei Tage später, und nur wenige Menschen konnten überhaupt von diesem seltsamen Phänomen berichten. Mich haben diese Geschichten schon in frühester Kindheit fasziniert, und als ich dann ein junger, ehrgeiziger Wissenschaftler geworden war, beschloss ich, diesen Legenden mit dem Seziermesser auf den Grund zu gehen. Das funktioniert in vielen Fällen nicht, meine Damen, denn die Natur legt uns nicht immer ihre Geheimnisse offen. Doch dieses Phänomen war greifbar. Ich fand heraus, dass im Organismus der Ratten bei drohender Gefahr ein bestimmtes Hormon ausgeschüttet wird, das den Fluchtimpuls befeuert.«
    Es war inzwischen mucksmäuschenstill im Saal. Die Frauen, die diese Geschichte zum ersten Mal hörten, lauschten gebannt – mit

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