Animus
ihren Perspektiven, nach einigen Jahren wieder relativ frei in der Öffentlichkeit leben und ihren Bruder und den Rest ihrer Familie wiedersehen zu können. Ich verschwieg ihm lediglich den genauen Ort, an dem sich das Lager befand. Ich fürchtete, Marc würde es nicht aushalten und versuchen, seine Stiefschwester da rauszuholen. Und ich verschwieg ihm die möglichen gesundheitlichen Folgen. Ich war fest davon überzeugt, dass der Professor das Problem mit den Synapsen bald im Griff hätte und es nicht nötig sei, Marc deswegen zu beunruhigen. Wenn ich nicht selbst fest daran glauben würde, hätte ich Ev gar nicht erst ins Programm übernommen. Außerdem brauchte Marc nun wirklich nicht mehr zu wissen als die Ratten selbst.
Marc hörte schweigend zu, bis ich fertig war.
Dann fragte er: »Wieso hast du das getan? Ich meine, für Ev?«
»Die Sache mit der versuchten Vergewaltigung und die Verurteilung wegen Mordes ging durch alle Zeitungen. Ich habe Evelyn auf dem Foto sofort erkannt. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, sah immer noch aus wie zehn. Du weißt, dass ich die kleine Filzlaus immer mochte. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich dir das schuldig bin. Dir und deiner Familie. Wusstest du, dass Caroline sich um meine Großmutter kümmerte, bevor sie starb? Sie hat für sie eingekauft, sie zum Arzt gebracht. Jedenfalls gehört Ev nicht in den Knast. Die ganze Sache klang für mich nach einer Hetzjagd. Außerdem kenne ich Ev, sie ist ein Lämmchen … Da, wo sie sich jetzt befindet, ist es zwar im Moment auch nicht viel besser, aber sie hat wenigstens die Aussicht, in einiger Zeit rauszukommen. Die hätte sie im Knast nicht, das weißt du. Begnadigungen gibt es schon lange nicht mehr. Die gehen alle vor die Hunde in diesen Löchern.«
»Höre ich da einen Anflug von Systemkritik?«, fragte Marc.
Ich schaute ihn müde an. »Nicht jeder, der für die Regierung arbeitet, ist automatisch ein dummes Arschloch, auch wenn das in kleinen Terroristenhirnen so sortiert wird.«
»Wann kann ich Ev treffen?«, überging Marc meine Attacke.
Ich schüttelte den Kopf. »Du hörst mir nicht zu. Das dauert. Du weißt nichts, und du wartest, ist das klar? Ich werde sehen, was ich tun kann. Vielleicht ergibt sich irgendwann eine Möglichkeit, sie aus dem Programm verschwinden zu lassen. Ich bekomme sie leichter aus dem Programm raus als spurlos aus dem Knast. Wenn sie erst einmal freigestellt ist, wird es nicht mehr allzu kompliziert sein, sie verschwinden zu lassen. Erheblich leichter jedenfalls, als sie überhaupt da reinzudrücken. Die nehmen normalerweise keine Frauen, die noch Familie haben. Aber ich hab ihre Daten gepusht. Ev ist jetzt schlauer als Einstein und sensibler als ’ne Mimose.«
Marc wurde langsam klar, dass ich schon viel weiter gedacht hatte als er.
»Wenn du ihre Ergebnisse gefälscht hast, Mann, ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass sie für diesen seltsamen Job nicht geeignet ist? Worum, verdammt noch mal, geht’s da eigentlich? Wenn ihr was passiert, weil sie die Voraussetzungen in Wirklichkeit gar nicht mitbringt, ich weiß nicht, was ich dann mit dir mache!«
Ich konnte seine Sorgen verstehen, aber das musste ich ihm nicht auf die Nase binden. »Nur keine Panik. Ihre Werte waren sehr gut, sie schafft das locker. Ich habe die Quotienten nur erhöht, damit sie an ihr nicht vorbeikönnen, auch wenn sie eigentlich aus dem Raster fällt. Bei dem Programm herrscht höchste Geheimhaltungsstufe. Da ist eine besorgte Mutter ein erheblicher Störfaktor. Bin gespannt, was sie Caroline für ’ne Geschichte auftischen. Vermutlich werden sie ihr sagen, Ev sei tot, nur damit sie aufhört nachzuforschen. Caroline und Charlie müssen unbedingt die Füße stillhalten. Und du wirst ihnen kein Wort sagen von dem Programm, dass das klar ist! Du hast ihnen doch bestimmt erzählt, dass wir uns treffen, oder?«
»Hm«, bestätigte Marc. Ihm war offensichtlich nicht wohl bei dem Gedanken, Charlie und Caroline zu belügen. Doch schließlich sah er ein, dass es keine andere Lösung gab. Erstens wäre Caroline nicht beruhigt, wenn sie diese obskure Rattengeschichte hören würde – er war es schließlich auch nicht. Und zweitens wäre es eine Lüge auf Zeit. Ich würde Wort halten und ihm eine Chance geben, mit Ev zu verschwinden.
Marc sah mich lange an.
»Danke, Pete.«
»Schon gut«, wehrte ich ab. »Ich muss los. Was hast du jetzt vor? Wie kann ich dich erreichen?«
»Schätze, ich werde erst einmal
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