Anita Blake 04 - Giergige Schatten
Verletzungen kümmern, ehe ich etwas anderes tue«, sagte ich.
»Kümmere dich darum, aber komm ins Guilty Pleasures, ehe es hell wird, sonst ist unser Waffenstillstand zu Ende.« »Warum sagen Sie es ihm nicht selbst?« »Er würde mir nicht glauben.« »Er kann unterscheiden, ob Sie die Wahrheit sagen«, gab ich zu bedenken.
»Nur weil ich glaube, dass es stimmt, muss es nicht die Wahrheit sein. Aber bei dir kann er die Wahrheit riechen. Falls ich nicht da bin, warte auf mich. Ich will dabei sein wenn er hört, dass du einen anderen liebst. Ich will sehen, wie ihm das Gesicht verrutscht.«
»Gut, ich komme vor Morgengrauen.«
Sie stieg über Louie hinweg. Sie hatte die Browning in der Rechten, mit der Handfläche über dem Hahn, wollte also nicht auf mich schießen, sondern sie nur behalten. Sie schritt auf mich zu und hob die Firestar auf, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Vom Heft des Messers tropfte das Blut. Es fiel in schweren, nassen Tropfen. Sie lächelte, als ich die Augen aufriss. Ich wusste ja, dass das einen Vampir nicht umbrachte, aber ich hatte schon erwartet, dass es wehtat. Vielleicht zogen sie die Klinge sonst nur aus Gewohnheit heraus. Gretchen jedenfalls schien sie nicht zu stören.
»Du kannst sie zurückhaben, wenn du es ihm gesagt hast«, sagte sie. »Sie hoffen, dass er mich umbringt«, stellte ich fest. »Ich würde keine Tränen vergießen.«
Großartig. Gretchen machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen. Am Rand der Bäume blieb sie stehen, eine bleiche Gestalt in der Dunkelheit. »Ich erwarte dich, Anita Blake. Enttäusche mich nicht.«
»Ich werde kommen«, versprach ich.
Sie lächelte und zeigte die blutigen Zähne, machte noch einen Schritt rückwärts und war verschwunden. Ich hielt das zuerst für eine Sinnestäuschung, aber dann spürte ich den Luftzug. Die Bäume rauschten, als ob es stürmte. Ich sah nach oben und erhaschte eine flüchtige Bewegung. Keine Flügel, keine Fledermaus, sondern ... etwas anderes. Etwas, womit mein Verstand nichts anfangen konnte oder wollte.
Der Wind legte sich, und der Winterabend war so still wie ein Grab. In der Ferne heulten Sirenen. Vermutlich hatten die Studenten die Polizei gerufen. Konnte nicht behaupten, dass das verkehrt war.
22
Ich stand auf, vorsichtig. Die Welt drehte sich nicht. Prima. Ich ging zu Louie. Sein Rattenleib lag sehr still und dunkel im Gras. Ich kniete mich hin, und Schwindel überfiel mich von neuem. Ich wartete auf allen vieren, dass es vorbeiging. Als die Welt wieder einmal stillstand, fasste ich auf seine Brust. Sie hob und senkte sich. Ich seufzte erleichtert auf. Er atmete, war am Leben. Fantastisch.
Wäre er in seiner menschlichen Gestalt gewesen, ich hätte seine Halswunde untersucht. Ich war ziemlich sicher, dass ich mir keine Lykanthropie holen konnte, wenn ich nur sein tierisches Blut an die Finger bekam, aber nicht hundertprozentig. Ich hatte genug Probleme, auch ohne dass mir einmal im Monat ein Fell wuchs. Außerdem würde ich, wenn ich mir das Tier aussuchen konnte, keine Ratte wählen.
Die Sirenen kamen näher. Ich war unsicher, was ich tun sollte. Louie war schlimm verletzt, aber ich hatte Richard schon schlimmer dran gesehen, und er war gesund geworden. Aber hatte er dafür medizinische Behandlung gebraucht? Ich wusste es nicht. Ich konnte Louie im Gebüsch verstecken, aber wollte ich ihn zum Sterben da liegen lassen? Wenn die Polizei ihn so fand, war sein Geheimnis gelüftet. Sein Leben wäre heillos durcheinander, nur weil er mir geholfen hatte. Das erschien mir nicht gerecht.
Aus seiner spitzen Schnauze kam ein langer Seufzer. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Das Fell begann sich zurückzuziehen wie das Meer bei Ebbe. Die Rattenglieder begannen sich zu strecken, die gekrümmten Hinterbeine wurden gerade. Ich sah seine menschliche Gestalt aus dem Fell hervorkommen wie einen Gegenstand aus tauendem Eis.
Louie lag im dunklen Gras, blass und nackt und sehr menschlich. Ich hatte noch nie die Umkehrung des Prozesses mit angesehen. Sie war so sensationell wie die Verwandlung in die Tiergestalt, aber nicht so beängstigend, vielleicht wegen des Ergebnisses.
Die Wunde an seinem Hals glich mehr einer Bisswunde von einem Tier, denn die Haut war aufgerissen. Aber zwei Zahnabdrücke gingen tiefer, die der Reißzähne. Inzwischen war die Wunde nicht mehr blutig. Ich konnte es im Dunkeln nicht gut erkennen, aber es sah aus, als begänne sich die Wunde bereits zu schließen. Ich prüfte
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