Anita Blake 10 - Ruf des Bluts
paarmal zugebissen.
Überall fehlte Fleisch, aber nirgends so viel, dass es den Tod brachte. Ich sprach ein kurzes Gebet, das meiste möge post mortem erfolgt sein. Dabei war ich mir schon fast sicher, dass die Bitte vergeblich war. Dafür war zu viel Blut geflossen. Sie war noch am Leben gewesen. Aus der zerfetzten Jeans hingen die angetrockneten Gedärme. Der Geruch von Exkrementen hatte sich inzwischen verzogen, doch ein neuer entwickelte sich bereits. Die Hitze sorgte für rasche Verwesung. Dieser Geruch ist schwer zu beschreiben, so überwältigend süßlich und bitter, dass man würgen muss. Ich atmete nur flach und trat auf die angetrockneten Blutspritzer.
Es durchfuhr mich wie ein Geisterhauch. Meine Nackenhaare wollten mir den Rücken runterkriechen. Der Teil meines Gehirns, der nicht für praktischen Alltagskram zuständig ist, sondern ausschließlich fürs Wegrennen und Kreischen und Nichtnachdenken, der flüsterte mir etwas zu. Er flüsterte, dass hier etwas ganz und gar seltsam war. Hier war etwas Böses am Werk gewesen. Es war nicht bloß gefährlich, es war böse.
Ich wartete, ob sich das Gefühl verstärkte, doch es wurde schwächer. Es verblasste wie eine schlechte Erinnerung, was wahrscheinlich bedeutete, dass ich den Rand eines Zauberkreises überquert hatte - oder vielmehr dessen Reste.
Man ruft nicht etwas derartig Böses herbei, ohne einen Schutzkreis zu schaffen, in dem entweder der Hexer steht oder die Bestie. Ich suchte den Boden ab, aber da war nichts außer Blut. Das Blut bildete nicht den Schutzkreis. Das war nur Schweinerei, verspritzt ohne besonderen Zweck.
Ich hätte mir denken können, dass nichts Offensichtliches zu finden sein würde. Polizisten sind keine Fachleute der schwarzen Künste, was sich jedoch allmählich ändert, aber man kann gar nicht anders, als nach Anzeichen von Magie zu suchen, wenn das Verbrechen so abartig ist.
Die Szene sah unberührt aus, was nicht hieß, dass sie unberührt war. Wenn jemand Magie sehr gut beherrscht, kann er bewirken, dass man nichts sieht. Er macht die Dinge nicht unsichtbar. Das können Menschen nicht. Physik bleibt Physik. Das Licht trifft auf einen festen Gegenstand und prallt ab. Aber der Hexer kann das Auge widerspenstig machen, sodass man immerzu an etwas vorbeisieht und nicht bemerkt. Wie wenn man zwei Tage lang die Autoschlüssel sucht, die offen daliegen.
Ich ging neben der Leiche in die Hocke. Mir fehlte der Overall, den ich sonst bei dieser Arbeit trug, und ich wollte mir die Jeans nicht blutig machen. Ich hatte noch immer die Arme unter der Brust verschränkt. Hier gab es Dinge, die wir nicht sehen sollten. Aber welche?
Henderson rief: »Wir haben die Brieftasche gefunden. Wollen Sie den Namen wissen?«
»Nein«, sagte ich. »Nein.« Nicht weil ich schlau erscheinen wollte. Ich wollte für das blutige Etwas keinen Namen haben. Mir war eben erst gelungen, die Leiche als ein Etwas zu betrachten, das unwirklich blieb, das man untersuchte, das aber nichts mit einem selbst zu tun hatte. Würde ich es anders sehen, würde ich auf der Stelle die Beweise vollkotzen. Das war mir einmal passiert, vor Jahren. Dolph und seine Leute sorgten dafür, dass ich das nie vergaß.
Die Augen waren ausgerissen und lagen als schwarze Klumpen auf den Wangen. Die langen Haare klebten am Kopf und an einer Schulter fest. Vielleicht waren sie blond, aber das war schwer zu sagen bei all dem Blut. Wegen der langen Haare hielt ich die Leiche für weiblich. Mein Blick wanderte abwärts und fand Kleiderreste. Von der Bluse war nur ein Fetzen in einer Achselhöhle übrig. Der Oberkörper war entblößt. Eine Brust war vollständig abgerissen, die andere in sich zusammengesunken wie ein Ballon oder wie ein ausgehöhlter Pudding.
Ein unglücklicher Vergleich. Ich musste aufstehen. Ich musste weggehen und ein bisschen Atem schöpfen. Ich ging zu einem Baum am Rand der Lichtung. Ich musste ein paarmal tief Luft holen, aber das hieß, den Gestank einzuatmen. Der süße Geruch glitt über meine Zunge und belegte den Rachenraum, bis mir die Vorstellung zu schlucken widerlich wurde und mir doch nichts anderes zu tun einfiel. Ich schluckte, und als der Geruch hinunterrutschte, kam der Morgenkaffee hoch.
Zwei Dinge trösteten mich. Erstens war ich außerhalb des verspritzten Blutes. Zweitens hatte ich nicht viel im Magen. Vielleicht hatte ich mir deshalb das Frühstücken abgewöhnt. Ich wurde häufig frühmorgens
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