Anklage
dennoch auf ein Rechtsmittel. Gemeinsam formulierten wir noch schnell den Text der Annonce, dann war die Sache beendet.
Ich fuhr zurück in die Kanzlei, um ausführlichen Bericht zu erstatten. Ein neuer Stern war aufgegangen. Er leuchtete hell und es war mein Stern. Die Journalisten der Presse berichteten ausführlich auf den Titelseiten vom Verfahren. Dass sie meinen Namen nicht mehr mit Gerechtigkeit in Verbindung brachten,
störte mich nicht. Ich hatte gewonnen und das allein war mir wichtig.
Ich freute mich auf die Hauptverhandlung, in der dann abschließend über die tatsächliche Schuld meines Mandanten entschieden würde. Aber das sollte noch eine Weile dauern.
8
Für die Kanzlei und mich lief alles blendend und ich genoss hohes Ansehen bei den Partnern. Der Fall erregte Aufsehen, und in der Folge wurde die Kanzlei mit Anfragen und Mandaten geradezu überschwemmt.
Vor allem dank vieler zahlungskräftiger Mandanten, die sich erhofften, mit besonders ausgebuffter anwaltlicher Hilfe einer verdienten Strafe zu entgehen oder noch einmal glimpflich davonzukommen, florierte die Kanzlei. Und auch ich bekam einen Teil des Kuchens ab, fuhr einen Sportwagen und genoss die vielen Partys, auf denen ich ein willkommener Gast war. Der Erfolg blendete mich. Gerechtigkeit? Das war nur ein Wort. Gab und gibt es nicht genug Beispiele, dass es völlig in Ordnung zu sein scheint, wirtschaftlichen Vorteilen absolute Priorität einzuräumen? In manchen Ländern - auch in Europa - führt das sogar so weit, dass mächtige Politiker sich Gesetze quasi maßschneidern lassen und so Absolution für ihr im Grunde unmoralisches und ungerechtes Verhalten erreichen. Wie kann das sein? Obwohl eigentlich das Urteil über Menschen eines der wichtigsten Elemente der Gerechtigkeit ist, scheint eine vernünftige Abwägung tatsächlich nicht mehr stattzufinden. Hintergründe zum Menschen und seinen Taten werden oft völlig ausgeblendet; man spricht nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand darüber. Es entsteht der Eindruck, dass nur noch zählt, was man hat, oder ob man irgendwie bekannt ist. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass ein Kinderschänderanwalt ein beliebter Partygast ist? Auch wenn der Anwalt die Straftat seines Mandanten selbst nicht begeht, kann und sollte man hinterfragen, was er da genau macht. Eine Glorifizierung allein deshalb, weil ihm die Verteidigerrolle Medienpräsenz einräumt, ist unangemessen. Ich hatte dafür keine
Erklärung und habe sie auch nicht gesucht. Ich nahm einfach mit, was die Gesellschaft mir bot.
Fast sehnsüchtig wartete ich auf die Ermittlungsakten zum Fall des Kinderschänders. Akteneinsicht ist in unserem Rechtssystem wohl die wichtigste Quelle bei der Strafverteidigung. Über die Akteneinsicht erfährt der Strafverteidiger, was tatsächlich Gegenstand der Ermittlungen ist und später auch der der Anklage sein wird. So erlangt er eine Art Waffengleichheit mit seinen Gegnern, den Ermittlungsbehörden. Er weiß dann auch, was sie wissen. Der einzige Wermutstropfen bei der Akteneinsicht ist, dass sie erst nach Abschluss der Ermittlungen gewährt wird. Das soll sicherstellen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft frei von Einwirkungen Dritter Informationen sammeln können. Erfahrene Strafverteidiger raten deshalb ihren Mandanten immer, sich in Schweigen zu hüllen, bis sie die Ermittlungsakten kennen. Dieses Recht hat ein Beschuldigter in einem Strafverfahren, und sein Schweigen kann auch nicht gegen ihn verwendet werden. Bald darauf durfte ich die Akten einsehen. Es waren regelrechte Papierberge, die da angeliefert wurden. Sofort wurden sämtliche Akten in der Kanzlei kopiert, womit zwei Angestellte zwei ganze Arbeitstage beschäftigt waren.
Die nun in meinem Zimmer liegenden Akten fraßen einen erheblichen Teil des designten Raums. Optisch hatte das Zimmer dadurch sehr gelitten, in der internen ideellen und finanziellen Bewertung der Anwälte dagegen deutlich gewonnen.
Zwei Wochen lang blätterte ich nun in den Akten, machte Notizen, merkte wichtige Seiten ein und versank in den schrecklichen Details der vielen Aussagen. Ich las die Berichte der Kinder, wie sie die Taten erlebt hatten und wie sie sich schämten. Obwohl sie unschuldig waren, wie wohl nur Kinder unschuldig sein können, schämten sie sich. Auch die Aussagen
der Eltern kannte ich bald in allen Fällen beinahe auswendig. Obwohl ich versuchte, all das möglichst nüchtern zu betrachten und als normalen Strafrechtsfall zu sehen, konnte
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