Anklage
Akte
gefunden hatte, erschien mir so wichtig, dass ich es würde nennen müssen.
Einerseits ging es um das Motiv desjenigen, der meinen Mandanten angezeigt hatte. Nicht, dass es verwerflich wäre, eine solche Straftat anzuzeigen, es besteht vielmehr geradezu die Pflicht dazu. Aber der Zeitpunkt der Anzeige machte mich stutzig, denn ich hatte nach dem möglichen Beweggrund des Anzeigenerstatters geforscht und war dabei auf Erstaunliches gestoßen. Kurz vor der Strafanzeige hatte mein Mandant ein Kaufangebot für einen Teil seines großen Grundbesitzes abgelehnt. Es gab eine Investorengruppe, die ein Gewerbegebiet erschließen und ausbauen wollte, wofür sie ein Grundstücksteil von ihm brauchten. Doch mein Mandant verkaufte nicht und jagte die Investorengruppe, die bei ihm vorstellig geworden war, von seinem Hof. Kurz darauf ging die Strafanzeige gegen ihn ein - von einem Mitglied dieser Investorengruppe.
Mein Mandant lebte in einem sehr kleinen Dorf, in dem jeder jeden kannte. Wie konnte es ganze 25 Jahre dauern, bis jemand merkte, was er trieb? Sollte hier der Weg frei gemacht werden für die geplante Großinvestition? Diese Vermutung lag für mich nahe. Aber konnte man das auch dem Anzeigenerstatter vor Gericht vorwerfen, ohne echten Beweis?
Der zweite Punkt, der mich auf der Fahrt beschäftigte: Eines der Opfer war mittlerweile eine erwachsene Frau und Mutter einer Tochter. Diese Frau war eines der ersten Opfer meines Mandanten gewesen und lebte im gleichen Dorf. Es war nicht die juristische Frage, ob die Tat bereits verjährt war, die mich beschäftigte. Es war die Tatsache, dass die Tochter dieser Frau wiederum Opfer meines Mandanten geworden war - obwohl ihre Mutter aus eigener, leidvoller Erfahrung wusste, was auf dem Hof vor sich ging. Offensichtlich gab es hier einen großen Klärungsbedarf. Aber kann man das in einem solchen Prozess tatsächlich fragen?
Je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher meldete sich mein Gerechtigkeitsempfinden zurück und mir wurde klar, dass es zur Sprache gebracht werden musste. Schließlich war ich Anwalt, und in dieser Funktion habe ich der Wahrheitsfindung zu dienen, die zudem meinen Mandanten in ein anderes Licht zu rücken vermag, ohne ihm seine Schuld zu nehmen. Es hatte offensichtlich Menschen gegeben, die wussten, was passiert war, und dennoch geschwiegen hatten. Menschen, die viel Leid hätten verhindern können, wenn sie rechtzeitig eingeschritten wären. Sie hätten nur reden müssen. Umgekehrt gefragt: Was wäre passiert, wenn mein Mandant sein Land verkauft hätte? Hätte er dann weitermachen können wie bisher? Wut auf die Feigheit der Menschen und die Macht wirtschaftlicher Interessen stieg in mir hoch. Und am Ende war es genau diese Wut, die den Prozess entscheidend beeinflussen sollte.
Ich stellte das Fahrzeug in einer Tiefgarage in der Nähe des Gerichts ab und ging mit zwei großen Rollenkoffern voller Akten zum Gerichtsgebäude. Es herrschte reger Andrang und schon der Vorraum des Gerichtssaals war voller Menschen. Als ich mit den laut ratternden Koffern ankam, richteten sich alle Blicke auf mich. Die Leute bildeten schweigend eine Gasse zur Eingangstür des Gerichtssaals.
Hinter der schmucklosen, grauen Tür waren zehn Reihen mit Zuschauerplätzen, die bis auf den letzten Platz besetzt waren. Die erste Reihe war für Presse- und Medienvertreter reserviert, die mit Blöcken und Stiften bewaffnet gespannt auf den Beginn des Verfahrens warteten. Anders als ihre amerikanischen Pressekollegen mussten die hiesigen Journalisten mitschreiben oder - falls sie es konnten - ein Bild skizzieren. Kameras sind während des Prozesses tabu; das deutsche Recht duldet keine Aufzeichnung einer Gerichtsverhandlung. Es gilt die Maxime, dass im Gericht anwesend sein muss, wer die Verhandlung
miterleben will. In den USA dagegen ist es erlaubt, einen Prozess live im Fernsehen oder neuerdings auch im Internet zu übertragen. In Deutschland ist es lediglich erlaubt, davon zu erzählen oder darüber zu schreiben. Vor und nach einer Verhandlung darf jedoch gefilmt beziehungsweise fotografiert werden.
In der Reihe hinter den Journalisten saßen die Angehörigen der Opfer, soweit sie sich den Prozess antun konnten. Die restlichen Plätze waren von Schaulustigen besetzt. Manche von ihnen hatten sich Getränke und kleine Snacks mitgebracht.
Der Verhandlungsbereich vor den Sitzreihen maß etwa 100 Quadratmeter und war rechteckig. Auf der langen Seite, den Zuschauern
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