Anklage
hat einen Maßanzug verdient, weshalb die Anwälte in diesem Beispielbild wohl als Schneider fungieren und die Anpassung vornehmen.
In meinem aktuellen Fall war das alles nur eine grundsätzliche Überlegung theoretischer Art. Denn Gerechtigkeit hin, objektive Strafvorwürfe her - ich war bereit, wieder in einen großen Fall einzusteigen, an dessen Ende eine hohe Honorarrechnung stehen würde. Und an eine Gerechtigkeitslücke dachte ich nicht, sondern nur an dieses Honorar und die Möglichkeit, einen großen Fall zu gewinnen. Deshalb hörte ich dem Inhaftierten auch aufmerksam zu. Er sprach über Menschenhandel, als wäre es eine der normalsten Sachen der Welt. Er erzählte, wie Frauen in armen Ländern mit falschen Versprechen angeworben wurden. Man stellte diesen jungen Frauen eine Stelle als Verkäuferin oder Kindermädchen in unserem Land in Aussicht, bei der sie angeblich ein Vielfaches ihres jetzigen Jahreslohns in einem Monat verdienen könnten. Viele von den angeworbenen Frauen hatten eigentlich nur die Absicht, einige Zeit im Ausland zu arbeiten und das dort verdiente Geld für den Aufbau einer Zukunft an ihre Familie nach Hause zu schicken. Geködert von diesem Geldversprechen und den rosigen Zukunftsaussichten, willigten die Frauen ein und kamen in
unser Land. Hier erwartete sie aber keine der versprochenen Stellen, sondern ein gewaltbereiter Aufpasser, der ihnen den Pass abnahm und sie in eine gut getarnte Unterkunft brachte. Dort wurden sie von einem Mann und einer Frau empfangen, die die Sprache der Angekommenen beherrschten. Den Frauen wurde eröffnet, dass sie einen exorbitant hohen Betrag für die Reise hierher und natürlich auch die Vermittlung des Jobs zu bezahlen hätten. Dieser Betrag überstieg bei Weitem das, was sie in einem normalen Job verdienen konnten. Die Frauen hätten deshalb die Wahl, entweder ihr nahezu gesamtes Leben die Schulden mit Zinsen zu begleichen oder eben einen anderen als den eigentlich versprochenen Job anzunehmen. Einen Job, der eine viel höhere Gewinnerwartung versprach. Die Frauen sollten als Prostituierte »anschaffen« gehen. Dieses Angebot wurde mit einer Kostprobe der Gewaltbereitschaft des Aufpassers untermauert. Den Frauen blieb faktisch nichts anderes übrig, sie mussten als Prostituierte arbeiten. Im Behördendeutsch nennt man das Zwangsprostitution.
Die Arbeitsstätten dieser Zwangsprostituierten waren Hotels, die entweder einen versteckten Eingang hatten oder so groß waren, dass niemand genau überblicken und kontrollieren konnte, wer das Hotel betrat. Die Kundschaft wusste Diskretion zu schätzen und auch, dass die Frauen die hiesige Sprache nicht verstanden und nicht wussten, wer ihre Freier waren. Diese mussten sich keine Sorgen machen, dass sie erkannt würden, was womöglich der Karriere oder dem Familienleben geschadet hätte. Denn der Schaden könnte groß sein, besonders dann, wenn die Kunden einer großen Öffentlichkeit bekannt sind oder eine herausgehobene Stellung bekleiden.
Wie er es beschrieb, war mein Mandant der hiesige Organisator in diesem Modell. Die Zielgruppe seiner Aktivitäten waren die sogenannten »wichtigen Menschen«. Und das Konzept
funktionierte nicht nur, es boomte. Nahezu alles, was Rang und Namen hatte, wollte diskrete schöne Stunden verbringen. Was seine jetzige Situation anging, lag an diesem Punkt der Denkfehler meines Mandanten begründet: Er glaubte, einer seiner mächtigen Kunden würde seinen Einfluss für ihn geltend machen und ihn aus dem Schlamassel befreien. Aber warum sollte ein angesehenes Mitglied unserer Gesellschaft auch nur einen Finger krumm machen, um sich für einen Kriminellen einzusetzen? Wenn das ruchbar würde, konnte das seine gesellschaftliche Stellung gefährden und ihn seine Position kosten. Also macht das niemand, außer man zwingt ihn. Aber welchen Zwang sollte ein Krimineller in dieser Lage schon aufbauen? Sollte er wirklich seine Kunden verraten und sich so vielleicht ein oder zwei Jahre Haft ersparen, gleichzeitig aber seine Existenzgrundlage dauerhaft vernichten? Vielleicht hätte mein Mandant nicht annähernd so freimütig erzählt, wenn er gewusst hätte, wie sehr er sich irrte. Wenn er erkannt hätte, wie töricht seine Vorstellung war, hätte er sich wahrscheinlich wie alle anderen Häftlinge verhalten: Er hätte sich gewunden und seine Tatbeteiligung heruntergespielt.
Mir war das Konzept des Menschenhandels, das mein Mandant ausführlich erklärte, klar, nur der konkrete
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