Anklage
Tatbeitrag meines Mandanten war in meinen Augen noch nicht wirklich deutlich geworden. Und es war mein Job, diesen Tatbeitrag in das richtige Licht zu rücken. Aber offensichtlich war sich mein Mandant seines »Protektorats von oben« so sicher, dass er die genaue Beschreibung dieses Tatbeitrags aussparte. Vielmehr setzte er immer wieder an, mir neue Details über die Kunden, ihre einflussreichen Positionen und ihre Vorlieben zu schildern. Doch diese Geschichten - auch wenn sie der Wahrheit entsprachen - brachten mich keinen Schritt weiter auf dem Weg zu einer Verteidigungsstrategie. Da vorerst nichts weiter von ihm zu erfahren war, legte ich ihm eine Vollmacht
und eine Honorarvereinbarung auf den Tisch, die der Inhaftierte anstandslos und ohne Nachfrage unterschrieb. Vielleicht dachte er, dass ihm seine angeblichen Protektoren auch noch mein Honorar bezahlen würden. Mir war das zu diesem Zeitpunkt egal. Ich packte die Schriftstücke ein, verabredete einen nächsten Besuchstermin und versprach, eine Haftprüfung in die Wege zu leiten. Beim Verlassen der Haftanstalt war ich ein wenig über meine eigene Abgestumpftheit erschrocken.
18
Kaum zurück in der Kanzlei, erwartete mich auch schon der nächste Fall. Als ich das Empfangssekretariat passierte, stürmte die Sekretärin aus dem Zimmer: »Sie sollen sofort zum Chef, es ist dringend.«
Ich stellte die Tasche in mein Zimmer und ging direkt zum Chef. Eigentlich war er nicht mein Chef, sondern nur der Chef der Sekretärin. Aber er war der namensgebende Partner und die hatten in allen Kanzleien eine Sonderstellung.
Der Chef saß an seinem Schreibtisch und ein anderer Anwalt hatte in einem der beiden vor dem Schreibtisch stehenden Besucherstühle Platz genommen. Die Schreibtischoberfläche war mit Akten, Papier und sonstigem Bürokram übersät. Eine Schicht von durchschnittlich ungefähr 30 Zentimetern hatte die gesamte Oberfläche des ausladenden Schreibmöbels in Beschlag genommen. Der Chef selbst war ein grauhaariger Mann fortgeschrittenen Alters mit mittlerer Statur und einem jungenhaften Gesicht. Er sah auf den ersten Blick trotz seines Alters dynamisch aus. Bei genauerem Hinsehen konnte man jedoch erkennen, dass die vielen Jahre im Anwaltsberuf durchaus Spuren hinterlassen hatten. Kleine Falten und Furchen zwischen den Augenbrauen zeugten von Anstrengung, Leid und Strapazen. Zugleich trug dieses Antlitz aber auch die Gesichtszüge eines Lebemannes, der sich durchaus teureren Vergnügungen hingab.
Der andere Anwalt sah besorgt und angespannt aus. In seiner ganzen Erscheinung wirkte er, als habe er kein großes Selbstvertrauen und würde von der ständigen Angst gepeinigt, er könne etwas falsch machen und müsste dann die Konsequenzen seiner Fehler tragen.
Ich nahm auf dem zweiten Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz und wartete, was mir die beiden zu sagen hätten. Offensichtlich ging es um einen Fall des unsicheren Kollegen, denn sonst wäre er wohl nicht im Büro.
»Wir haben heute einen neuen Fall angetragen bekommen, der großes Potenzial für unsere Kanzlei hat. Es ist zwar nicht direkt Ihr Lieblingsrechtsgebiet, aber ich denke trotzdem, dass Sie der Richtige sind. Natürlich mit dem Kollegen zusammen, denn der hat den Fall auch akquiriert.« Der Chef deutete auf den neben mir sitzenden Kollegen, der mir kurz zunickte. »Bitte, Herr Kollege, erzählen Sie doch kurz, worum es geht«, fuhr er fort und warf einen intensiven Blick auf meinen Nebenmann.
Der sprach mit leiser Stimme: »Es geht um eine Massenentlassung. Wir haben die Anfrage von einer gesamten Belegschaft, weil ihr Betrieb stillgelegt und allen gekündigt werden soll. Sie möchte das Ganze anfechten und ist auch zu gerichtlichen Schritten gegen den Arbeitgeber bereit.«
»Und was soll ich dazu beitragen?«, warf ich ein. »Ich habe genug Fälle und außerdem ist es nicht mein Gebiet, wie Sie schon sagten.«
Mein Nebenmann schwieg; es behagte ihm offensichtlich nicht, dass man ihm den Fall wegnehmen beziehungsweise mich mit in den Fall involvieren wollte.
»Lassen Sie es mich kurz erklären. Es ist die Anzahl der Arbeitnehmer, weshalb Sie hier sind. Man kann das Mandat nicht in einzelnen Besprechungen erledigen, Sie kennen ja die Fristen. Das würde viel zu lange dauern und die Zeit haben wir nicht.« Der Chef spielte auf eine im Kündigungsschutzgesetz verankerte Drei-Wochen-Frist an. Im Falle einer Kündigung muss jeder Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach Erhalt der
Weitere Kostenlose Bücher