Anklage
fiel jedem im Saal auf, aber was wurde da gespielt? Bevor ich diesen Gedanken vertiefen konnte, betraten der vorsitzende Richter und die beiden ehrenamtlichen Richter den Sitzungssaal. Alle im Raum standen auf und warteten, bis ihnen der vorsitzende Richter ein Zeichen gab, dass es erlaubt war sich zu setzen. Dann wurde festgestellt, wer im Saal anwesend war. Auf unserer Seite gab es da keine Besonderheiten, aber die Gegenseite hatte eine faustdicke Überraschung zu bieten. Anstatt des bisher tätigen Kollegen war der ältere Herr gekommen, und zwar als vorläufiger Insolvenzverwalter über das Vermögen des Betriebs. Er legte die notwendigen Beschlüsse und Bestellungen des zuständigen Insolvenzgerichts vor und entschuldigte sich für die doch sehr kurzfristige Mitteilung. Das Insolvenzgericht hätte erst so spät entschieden, dass er es nicht mehr schaffen konnte, alle Verfahrensbeteiligten über die neue Sachlage zu unterrichten.
Der vorsitzende Richter wandte sich zu mir: »Nun, ich nehme an, sie werden Ihre Klagen umstellen und auf den Vortrag des Herrn Insolvenzverwalters Bezug nehmen. Oder möchten Sie erst mit Ihren Mandanten besprechen, was das nun bedeutet?«
Trotz seiner monotonen Stimme lag Mitgefühl in seinem Blick, denn er wusste nur zu gut, welche Konsequenzen ich meinen Mandanten nun darlegen musste.
»Danke, das ist sehr nett. Ich möchte mich erst mit meinen Mandanten besprechen.«
»Gut, dann machen Sie das. Reichen fünfzehn Minuten oder brauchen Sie länger?«
»Nein, das müsste reichen. Vielen Dank!«
Ich packte meine Akten und ging als erster aus dem Saal in den Vorraum, wo genug Platz für die Besprechung war. Schweigend und mit gesenkten Häuptern ging die vormals so lebhafte Gruppe meiner Mandanten hinter mir her. Es erinnerte nicht nur an einen Trauermarsch nach einer Beerdigung, es war auch einer. Vor der Tür angekommen, bildete sich ein Knäuel geknickter Menschen. Ich legte in kurzen Worten dar, dass die Firma Insolvenzantrag gestellt hatte, das Gesetz nun vorsah, dass der vorläufige Insolvenzverwalter das Unternehmen vertrat und er auch entscheiden würde, inwieweit tatsächlich eine Fortführung des Betriebs sinnvoll wäre oder ob er geschlossen würde.
Einer aus der Menge sagte: »Jetzt sind wir alle erledigt.«
Ein anderer frage sich laut, wie er die Raten für sein Haus weiter bezahlen solle. Die übrigen schwiegen oder murmelten Unverständliches vor sich hin.
Dann ergriff die resolute Dame das Wort. »Wenn die pleite sind, was ist dann mit uns? Können die uns mit einer Insolvenz echt einfach so abspeisen?«
Alle Blicke wanderten zu mir, denn ich musste diese Frage nun beantworten. Und genau wegen dieser Antwort hatte der Richter mit einem mitfühlenden Blick zu uns geschaut. Ich musste den Menschen sagen, dass es aufgrund der Insolvenz eine sogenannte Vollstreckungssperre gab. Sogar Urteile gegen die Firma sind davon betroffen und können nicht mehr vollstreckt
werden. Sie waren nahezu wertlos, denn es oblag dem Insolvenzverwalter zu entscheiden, wie zukünftige Zahlungen und auch Einnahmen verteilt und verwaltet würden. Selbst wenn er gesetzliche Vorgaben hatte, war doch die entscheidende Frage, ob das Unternehmen fortgeführt werden sollte oder nicht. Der einzige Vorteil eines solchen Verfahrens war die Möglichkeit für die betroffenen Arbeitnehmer, noch etwas Insolvenzausfallgeld in die dann vage Zukunft mitzunehmen. Ein schwacher Trost. Nachdem ich das alles kurz aufgezählt hatte, gingen wir wieder in den Saal zurück. Einige ältere Betroffene hatten Tränen in den Augen. Manche hatten fast 25 Jahre dort gearbeitet und ihre Existenz stark mit dem Betrieb verknüpft. Sie hatten bescheidene Immobilien gekauft, die sie noch immer abzahlen mussten. Sie hatten sich damals nichts gedacht, als der einst florierende Betrieb an eine Investorengruppe verkauft worden war. Was sollte schon schiefgehen, denn die Firma hatte eine solide Basis, bot eine gute Qualität und hatte auch einen exzellenten Ruf auf dem Markt. Die neuen Eigentümer hatten also ein gutes Geschäft gemacht und konnten langfristig auch nicht viel falsch machen, denn es war eine Menge Know-how im Unternehmen vorhanden. Dass sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens aber schon kurze Zeit nach der Übernahme so rapide verschlechtern würde, hätten sie nicht gedacht. Besonders, da sie doch auch Mitarbeiter der Investoren aus entfernten Ländern einlernen durften. Die meisten Mitarbeiter deuteten
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