Anklage
wahr zu sein. Auch hier hatte ich es fast nur mit finanziell ertragreichen Strafrechtsmandaten zu tun, die meinen Idealen zuwiderliefen. Ich war vom Regen in die Traufe gekommen. Wo zum Teufel war der Platz, der mich sein ließ, wie ich sein wollte: ohne Zwänge, frei und glücklich?
Ich starrte auf die andere Seite in ein anderes Gebäude, wo auch gearbeitet wurde. Auf die Idee, dass auch dort drüben jemand sich fühlte wie ich, kam ich nicht. Dass man sich mit diesem Gleichgesinnten zusammentun könnte, um eine bessere Welt zu bauen, kam mir schon gar nicht in den Sinn. Wie sollte ich so jemanden auch bemerken, wo sich doch alle hinter den Masken funktionierender Gesellschaftsmitglieder verstecken und nach außen nur zeigen, dass es ihnen gut geht? Ich fühlte mich unglücklich und allein. Hatte wirklich nur ich dieses Problem? Was war so falsch an meinen Ansprüchen, dass sie nicht durchsetzbar waren? Doch ich riss mich zusammen: Disziplin und kein Gejammer! Mit dieser Selbstdisziplin hatte ich schließlich schon die Abartigkeiten des
Mandanten im Missbrauchsfall zu ertragen gelernt und auch andere hässliche Erlebnisse aus dem Beruf des Strafverteidigers verdrängt. Schließlich hatte doch bisher alles gut funktioniert und so sollte es auch bleiben. Schließlich ging es ums Geld und seine Macht. Also fand ich mich wieder einmal mit meinem Schicksal ab. Doch irgendetwas war anders geworden. An diesem Tag packte ich meine Sachen deutlich früher zusammen als sonst. Ich ging am Fluss joggen, denn ich musste raus, brauchte frische Luft. Was ich jedoch nicht brauchte, war ein Spiegel. An diesem Tag konnte ich mich nicht mehr selbst ansehen, zu groß waren Scham und Enttäuschung über die Kapitulation vor meinen eigentlichen Wünschen.
Wenn ich gewusst hätte, mit welcher Macht mein Kämpferherz zurückkommen würde oder der alten Weisheit vertraut hätte, dass man sein Herz nie endgültig ausschalten kann, hätte ich in Vorfreude schon mal eine Flasche Champagner aufgemacht.
30
Heute sollte es gelten. Die Verhandlung der Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht und die damit verbundene Entscheidung über ihre Zukunft stand an. Als ich an diesem Tag den schmucklosen Bau des Arbeitsgerichts zum ersten Mal auf der Suche nach einem Parkplatz passierte, sah ich meine Mandanten als geschlossene Gruppe vor der Tür stehen. Fast alle trugen Jeans, einige rauchten. Die gesamte Gruppe wirkte sehr lebendig, ja fast aufgekratzt. Das gefiel mir, es zeugte von Engagement. Als ich dann zu Fuß zu der Gruppe stieß, gab es ein großes Hallo und eine angenehme und wohlige Stimmung ergriff mich. Ich merkte schnell: Die Menschen setzten ihre Hoffnungen auf mich, ich sollte es zum Guten wenden. Eigentlich eine hohe Hürde, aber angesichts der Stimmung, die aus der Menge kam, machte es mir nichts aus. Nach einem kurzen Gespräch gingen wir in das Gerichtsgebäude und direkt zum Sitzungssaal. Dort nahm ich am Tisch der Kläger Platz. Presse war keine da, obwohl es um viel ging. Neben mich platzierte sich die resolute Dame, die auch schon die Betriebsversammlung »moderiert« hatte. Sie war die erste Klägerin, deren Sache verhandelt wurde. Anders als in amerikanischen Prozessen gibt es bei uns keine echte Sammelklage, bei uns muss jeder seine eigene Klage erheben, und so bekam jeder seinen eigenen Termin. Aus Gründen der Praktikabilität und der Effizienz legen die Gerichte in Fällen von Klagen vieler gegen ein und denselben Beklagten alle Verfahren auf einen Tag. Der Platz der Gegenseite war noch leer. Vielleicht steckte der andere Anwalt im Stau.
Kurz vor Beginn der Verhandlung trat ein unscheinbarer, kleiner Mann mit einem grauen Anzug und einer Nickelbrille auf
der Nase in den Raum. Er hatte ein spitzes Gesicht und tief liegende, dunkle Augen. Sein verbliebenes kurzes, graues Haar war akkurat nach hinten frisiert. Ich dachte sofort an einen Buchhalter und auch daran, dass sich der gegnerische Kollege vielleicht die Unterstützung eines Mitarbeiters der Finanzabteilung des Betriebs gesichert hatte. Schließlich ging es ja im Wesentlichen um die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betriebs. Der graue Herr ging direkt zum Platz der beklagten Firma, packte eine prall gefüllte Akte aus dunkelblauem Karton aus und wartete. Er sagte nichts, er wartete einfach nur. An eine Begrüßung, wie es auch vor Gericht üblich ist, schien er nicht im Geringsten zu denken. Und vom gegnerischen Anwalt fehlte weiter jede Spur. Dass da etwas faul war,
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