Anklage
gefragt.«
Ich nickte. Das Lächeln des Chefs begann langsam zu schwinden, dennoch bemühte er sich freundlich zu bleiben. »Und weshalb das, wenn ich fragen darf? Sie kennen doch unsere Kanzleipolitik.«
»Natürlich kenne ich die, aber der Mandant braucht eben einen Anwalt und kann ihn sich nur leisten, wenn er Prozesskostenhilfe bekommt. Man muss ihm in jedem Fall helfen. Der wurde so mies behandelt, das geht nicht und kann so auch nicht bleiben.«
Der Chef war sichtbar erstaunt über meine offensive Antwort, er hatte sicher zumindest den Versuch einer Rechtfertigung oder eine beschwichtigende Erklärung erwartet.
»Aha, und warum müssen gerade Sie dieser Anwalt sein? Die Stadt ist doch voll von Anwälten, da hätte er doch sicher einen anderen gefunden. Sie verschwenden Zeit! Unsere Zeit! Zeit ist Geld, mein Lieber!«
»Nun, bei allem Respekt. Ich wollte das Mandat, weil ich dem Mandanten helfen will. Deshalb habe ich so entschieden, schließlich …«
»Seit wann«, unterbrach mich der Chef, »entscheiden Sie das denn? Das geht gegen unsere Kanzleipolitik und Sie wissen das! Das entscheiden nicht Sie. Sie setzen Entscheidungen bloß um. Verstanden!«
Ich senkte den Kopf, aber nicht demütig, sondern las in den Unterlagen des neuen Mandates weiter. Antwort gab ich keine. Irgendwann würde er schon aufgeben und gehen. Doch er blieb.
»Wo wir gerade dabei sind, was gibt es denn Neues in der Strafrechtssache, die Sie ablehnen wollten?«
Mir war klar, dass er nun einen erfolgreichen Vollzugsbericht hören wollte, um dann eine Kompensation mit dem Prozesskostenhilfefall vorzunehmen. Vielleicht hätte er mein Eintreten für Gerechtigkeit als Spinnerei abgetan oder auch als Hobby. Er baute mir eine Art letzte Brücke, über die ich zurückkehren sollte. Zurück ins Boot der hohen Umsätze.
»Ich werde das Mandat nicht übernehmen. Der soll sich einen anderen Anwalt suchen. Steckt mir zu tief drin im Dreck und ich möchte da nicht reinfassen. Nicht wegen so einem und nicht wegen der Kohle.«
Ich empfand es als erniedrigend, den Wunsch nach Gerechtigkeit und meine Unterstützung dafür verleugnen oder verstecken zu müssen. Schließlich hatte ich das auch mal geschworen, damals bei der Zulassung als Anwalt.
Der Chef schnaubte, er stand jetzt mit rotem Kopf in meinem Büro. »Sie werden mir jetzt genau zuhören«, zischte er zornig, »Sie werden das Arbeitsrechtsmandat abgeben und die besser
bezahlte Strafrechtssache machen. Ist das klar?!« Er schrie. Mit seinem rechten Zeigefinger drohte er mir und auch die zweite Hand hatte er aus der Hosentasche gezogen.
Unbändige Wut stieg in mir auf und ließ mich vom Bürosessel aufschnellen wie eine aufgezogene Feder. Drei schnelle Schritte und ich stand vor ihm. Noch nie stand ich ihm in einer Diskussion oder Besprechung gegenüber, ohne einen Schreibtisch oder ein sonstiges Möbel dazwischen. Jetzt war da nichts mehr im Weg. Es gab kein Versteck mehr. Showdown.
»Nein, Sie hören mir jetzt zu«, gab ich zurück. »Ich werde einen Teufel tun. Es ist mir egal, was Sie und Ihre seltsame Kanzleipolitik sagen. Diese Entscheidung treffe ich für mich, nicht Sie oder irgendeine dämliche Kollegenrunde, die Ihnen ohne eigene Meinung nur nach dem Mund redet. Ich habe eine eigene Meinung und die werde ich Ihnen nun noch mal sagen: Ich werde den Mandanten vertreten, der mich braucht und nicht den, der versucht, sich durch meine Hilfe der Strafe zu entziehen. Das ist durch. Egal, was wer zahlt. Und wenn Ihnen das nicht passt …« Ich schrie so laut wie noch nie in meinem Leben.
»Dann was?«, rief nun der Chef in voller Lautstärke dazwischen.
»Das wissen Sie am besten, dann können Sie den Mist allein bearbeiten!«
Ich war erschrocken über meinen Mut. Vielleicht war nun das Fass endgültig übergelaufen. Wir standen uns gegenüber wie zwei Gladiatoren in der Arena. Lauernd bereit zum nächsten, vielleicht entscheidenden Schlag. Wer würde es sein, der diesen Schlag ausführt? Im tiefsten Inneren hoffte ich, er würde seinem Standpunkt treu bleiben, denn ich wollte das alles hier in der Kanzlei nicht mehr.
Der Chef sagte unerwarteterweise nichts, drehte sich weg, ging einige Schritte in meinem Büro umher und setzte sich auf einen der Besucherstühle in meinem Zimmer. Er atmete tief durch.
»Gut«, sagte er. »Aber nur das eine Mal. Danach machen wir es wie bisher.«
»Nein, immer. Ich suche mir meine Fälle zukünftig selbst aus. Ohne Druck oder Einmischung
Weitere Kostenlose Bücher