Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anklage

Anklage

Titel: Anklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Schollmeyer
Vom Netzwerk:
Verhältnisse ablegen, anhand derer dann die Bedürftigkeit des Antragstellers beurteilt wurde. Außerdem wurde geprüft, ob sein Anliegen nicht »mutwillig« war. Im Falle von Pflichtverteidigungen unterblieb eine solche Prüfung, da ging es um die Schwere der Straftat. Die endgültige Entscheidung über Prozesskostenhilfe traf dann das Gericht. Hatte man aus Sicht der staatlichen Einkommenstabellen genug, musste man selbst bezahlen, hatte man weniger, als die Tabelle vorsah, bekam man einen Anwalt bezahlt. Treibt nun die Gegenseite die Kosten durch drei Kündigungen nach oben, kann ein Prozess - so richtig die Argumente auch sind - zu einem finanziellen Fiasko werden.
    Den Mandanten beschäftigte indessen eine in seinen Augen andere Gemeinheit des Falls. Er war Betriebsratsmitglied und da musste der Betriebsrat der Kündigung zustimmen, sonst wäre sie schon deshalb erledigt gewesen. Das war der Punkt, den der Mandant nicht verstand: Seine eigenen Betriebsratskollegen hatten zugestimmt. Sie hatten über alles Bescheid gewusst, ihm nichts gesagt und seiner Kündigung zugestimmt. Und das, wo er immer für die Arbeitnehmer im Betrieb gekämpft hatte, sei es in Gehaltsfragen oder Überstunden, bei Urlaub oder Entlassung.
    Die 36 Jahre Betriebszugehörigkeit des Mandanten wollte der Arbeitgeber nicht gelten lassen; er verdiene keine Gnade und müsse gehen. Ich musste spontan an den einen oder anderen Strafrechtsfall denken, wo für deutlich schlimmere Vergehen nur eine milde Strafe ausgesprochen wurde. Hier stand die gesamte Existenz des Gekündigten auf dem Spiel, denn es war schwer, in fortgeschrittenem Alter wieder einen neuen Job zu finden und die Einbußen bei der Rente würden deutlich ausfallen. Demgegenüber ist eine Geldstrafe schnell bezahlt, aber
einen neuen Arbeitsplatz findet sich in einem solchen Fall schwer. Wer wegen nichts Geringerem als dem Verdacht mehrerer Straftaten zulasten des Arbeitgebers gekündigt wurde - so wurden die Vorwürfe im Gesetz klassifiziert -, hat wohl kaum eine Chance, wieder eine vergleichbare Arbeit zu finden. In unserer Angstgesellschaft war das unabhängig von den tatsächlichen Hintergründen ein echter Ausschlussgrund. Das Ungerechte dabei ist, dass es auf die Wahrheit gar nicht mehr ankam, es reichte, wenn man im Verdacht gestanden hat. Was auch nur als hinderlich oder gar gefährlich erscheint, wird gemieden oder beseitigt. Sicherheitsdenken und Freiheitsanspruch stehen dabei in Konkurrenz zueinander. Freiheit bedeutet immer etwas Risiko, während angestrebte völlige Sicherheit oft überzogene Einschränkungen mit sich bringt. Es ist also sicherer, so jemanden nicht einzustellen, wobei der Wahrheitsgehalt der Information keine große Rolle spielt. Ein Blick hinter die Fassade findet nicht statt. Das hat mit Freiheit und Menschlichkeit nicht viel gemein, sondern ist rückständig und dumm.
    Der Mandant schätzte seine Situation für mich überraschend zutreffend ein. Trotzdem war er nicht gebrochen. Man spürte, dass er wusste, nichts Unrechtes oder Falsches gemacht zu haben. Um nun aber eine Klage einreichen zu können, musste ich Prozesskostenhilfe beantragen. Ich rief also bei der Sekretärin an und fragte, ob wir ein Formular zur Beantragung von Prozesskostenhilfe da haben. Natürlich hatten wir so was nicht, weshalb ich sie bat, ein solches Formular zu besorgen. Dem Mandanten würde ich das dann zusenden, denn das Formular konnte bei Gericht noch nachgereicht werden. Die Besprechung ging zu Ende und der Mandant ging wieder.

33
    Im Lauf des Tages schlenderte der Chef wie zufällig in mein Büro, während ich dabei war die Unterlagen des neuen Mandanten zu studieren.
    »Hallo, Herr Kollege, störe ich? Sie sind ja ganz in die Arbeit vertieft.« Der Chef lächelte milde. Seine Hände steckten in den Hosentaschen seiner dunkelbraunen Cordhose. Offensichtlich hatte er nicht vorgehabt, heute in die Kanzlei zu kommen, und doch hatte ihn irgendetwas hierhergezogen. Vielleicht eine beunruhigende Nachricht oder ein dringendes Mandat. Es musste sich aber um einen wichtigen Grund handeln, dass er sich nicht einmal mehr umgezogen hatte. »Ich habe gehört, Sie haben ein neues Mandat bekommen. Arbeitsrecht, wenn ich recht informiert bin.« Der Chef hatte immer noch ein freundliches Gesicht aufgesetzt.
    »Stimmt. Sie interessieren sich dafür?«, sagte ich.
    »Weniger für den Fall als für die Abrechnung. Ich habe gehört, Sie haben heute nach Formularen für Prozesskostenhilfe

Weitere Kostenlose Bücher