Anklage
dem Zettel an. Eine raue, tiefe Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. Die ersten Worte klangen ein wenig wie eine Drohung, waren aber der Name des Angerufenen gewesen.
Nachdem ich mich vorgestellt hatte und fragte, was ich für ihn tun könne, sagte der Mann kurz: »Ich brauche einen Termin, den Rest erzähle ich persönlich. Kann ich heute noch vorbeikommen? Es ist dringend. Meine Frist läuft ab.«
Um was es konkret ginge, fragte ich nach, und bekam zu hören, dass er gekündigt wurde. Die Gründe seien aber falsch und deshalb möchte er sich dagegen wehren. Ich sollte für ihn klagen. Da es sich um die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses handelte, das an eine Drei-Wochen-Frist für die Einreichung einer Klage gebunden ist, war tatsächlich höchste Eile geboten. Noch am frühen Nachmittag des gleichen Tages kam er in die Kanzlei. Vor mir stand ein Mann um die 60. Er hatte volles dunkles Haar mit einzelnen grauen Strähnen. Sein kantiges Gesicht und die vielen tiefen Falten zeugten von einem Leben anstrengender Arbeit. Seine Augen waren offen und klar. Er trug einen alten, mittelblauen Anorak und ein rustikales Holzfällerhemd zu seinen Jeans. Ich war nicht verwundert, als er mir erzählte, dass er Busfahrer und zudem lange im Betriebsrat seiner Firma gewesen sei. Denn genau so stellte ich mir auch einen Betriebsrat vor. Einen Betriebsrat, der die Interessen seiner Kollegen hart und mit Herzblut vertritt. Er legte mir seine Kündigung auf den Schreibtisch. Angeblich hätte er seinen Arbeitgeber angeschwärzt und unrichtige Informationen über den Sicherheitszustand der dortigen Busse, genauer gesagt der Bremsen, an die zuständigen Behörden gegeben, um seinem Arbeitgeber zu schaden. Außerdem hätte er einmal einem Kind erlaubt mitzufahren, obwohl es keine Fahrkarte gelöst hatte. Den Preis der Fahrt hatte er bezahlt. Als Motiv gab er an, das Kind zu kennen und zu wissen, dass es »in der Familie kein Geld gab« und der Junge anders als die anderen Kinder in seinem Alter noch nie im Urlaub war. Und da er dem Kind, das im Übrigen immer eines der anständigsten auf den vielen gemeinsamen Fahrten war, eine kleine Freude zu Ferienbeginn machen wollte, hatte er ihm gesagt, es solle sich lieber ein Eis kaufen von dem gesparten Fahrtgeld.
Unglücklicherweise saß ein Kontrolleur im Bus. Unerkannt und aufmerksam hatte der das Geschehen beobachtet und
sich Notizen gemacht. Der Kontrolleur hatte gesehen, dass das Kind keinen Fahrschein lösen musste. Leider war es ihm offensichtlich entgangen, dass der Fahrer die Fahrt des Kindes bezahlte. Wie es ihm beigebracht wurde, meldete er den Schwarzfahrer und die ganze Geschichte dem Arbeitgeber meines Mandanten. Der Arbeitgeber bezeichnete das als Beihilfe zur Beförderungserschleichung und kündigte fristlos. Weil man aber schon dabei war, wurde auch die angebliche Bemerkung über die kaputten Bremsen als falsche Verdächtigung sowie Kreditgefährdung angeführt und als weiterer Kündigungsgrund mitgeliefert. Denn welcher Fahrgast fährt schon gern mit Bussen, bei denen die Bremsen kaputt sein sollen. Das kostet Umsatz und verspielt Kreditwürdigkeit bei der Bank. Mein Mandant hatte also von seinem Arbeitgeber drei Kündigungen für ein und dasselbe Arbeitsverhältnis erhalten. Sie waren alle fristlos. Deshalb musste nun formal gegen drei Kündigungen Klage erhoben werden, auch wenn die in einem Schriftstück zusammengefasst werden durften. So wollen es das Arbeitsrecht und die Arbeitsgerichte. Außerdem gab es noch die Frage der Bezahlung der Anwaltskosten, eine hinterhältige Besonderheit dieser besonderen Kündigungsart. Anders als in normalen Rechtsstreitigkeiten sonst üblich, zahlt jeder in der ersten Instanz seinen Anwalt selbst. Die allgemeine Regel gilt hier nicht, wonach der Unterlegene dem Sieger der Streitigkeit seine Kosten erstatten muss. Drei Kündigungen und damit drei Klagen bedeuteten wesentlich höhere Anwaltskosten. Ob die Kündigungen rechtmäßig waren oder ob sie vielleicht auch willkürlich oder aus prozesstaktischen Gründen ausgesprochen wurden, spielte keine Rolle; nur die Anzahl der Kündigungen entschied über die Kosten. Ohne Rechtsschutzversicherung konnte das sehr teuer werden.
Mein neuer Mandant hatte das Geld für einen Anwalt nicht, er war auf staatliche Unterstützung, die Prozesskostenhilfe,
angewiesen. Um diese Unterstützung zu bekommen, musste der Mandant auch noch komplett Rechenschaft über seine wirtschaftlichen
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