Ankwin - Tod eines Kriegers (German Edition)
blutverschmierten Fingern immer wieder. Die Wunde am Ohr hatte jetzt auch wieder angefangen zu bluten und der Splitter war glitschig geworden. Er nahm den letzten Rest seiner Willenskraft zusammen. Langsam gab der Knorpel das Perlmutstück frei.
Der Schmerz schoss ihm durch sein Ohr direkt ins Gehirn. Er schrie kurz auf. Schließlich hielt er das bunte Muschelstück zwischen Zeigefinger und Daumen und betrachtete es lange. Ein sonderbares Gefühl der Klarheit durchfloss ihn.
Nein! So sollte es nicht enden! So konnte es nicht enden! Theodus stand auf. Wer war er, dass er sich so gehen ließ? Er war ein hoher Rechtsgelehrter Brakenburgs. Er wurde ärgerlich. Er war Berater des Königs. Langsam schwollen die Adern auf seiner Stirn. Er war königlicher Hexenjäger und Großmagier. Sein Mund geriet in Bewegung, als würde er etwas kauen, Speichel sammelte sich darin. Er war langjähriger Wegefährte, Vertrauter und Freund des wahrscheinlich ehrenvollsten und tapfersten Kriegers des ganzen Landes, Ankwin vom Bärenfelsen.
Er zitterte vor Wut. Er war wütend auf sich, wütend auf die verschwendeten Jahre. Ja, er war sogar wütend auf Ankwin, der einfach so davon gegangen war. Er bebte am ganzen Leib. Jahrelang hatte er als Adept gelernt, die Wut zu kontrollieren, sie abzuleiten, um immer Herr zu sein über das Selbst. Jetzt kam er zu der Überzeugung, dass es genau diese Wut war, die ihn wieder klar denken ließ. Zornig warf er den Splitter zu Boden. Sein Magen zog sich zusammen. Er wurde immer noch wütender.
Schließlich holte er aus und zerschlug die zweite Muschelhälfte mit der bloßen Faust. Es hörte sich an, als würde Glas zerbrechen. Es blieben nur noch Hunderte winzigkleine glitzernde Stücke übrig. Seine Handknöchel bluteten. Fasziniert von dem roten Lebenssaft hob der die halbgeöffnete Hand und betrachtete sie, dann ballte er sie erneut zur Faust und knurrte.
Wie rasend fegte er mit einem Wutschnauben einen der Regalböden leer, dann noch einen und noch einen. Dann sah er, was er gesucht hatte, ein kleines Türchen, das hinter dem Bücherregal in der Wand eingelassen war. Er riss das Türchen auf.
Dahinter stand zwischen allerlei sonderbaren Kostbarkeiten eine Phiole mit einer blau leuchtenden Flüssigkeit. Sie glomm wie der letzte Funken Hoffnung in einer immer dunkler werdenden Welt. Der blaue Schein verlieh seinem Gesicht einen unwirklichen Glanz.
Ungestüm nahm er das Fläschchen aus dem Fach, öffnete es und trank es hastig aus. Sofort setzte die Wirkung ein. Er konnte spüren, wie sich die Wunden an seinem Kopf und seiner Hand schlossen und wie das Klingeln in seinen Ohren verschwand. Er hatte keinen Durst mehr.
Er streckte seinen Rücken durch, drückte die Brust heraus und senkte die Schultern etwas. Er fühlte sich beinahe euphorisch.
Der Heiltrank war von irgendeiner riskanten Unternehmung übrig geblieben und hatte bereits Jahrzehnte in seinem kleinen Versteck gewartet. Obwohl Theodus schon das ein oder anderer Mal körperlich an seine Grenzen gestoßen war oder ein kleines Vermögen aus dem Trank hätte schlagen können, hatte er es nie fertiggebracht, ihn zu nutzen. Jetzt war er dankbar darum.
Sein Blick fiel auf das Fach, das durch das schwächer werdende Licht wie ein schwarzer Schlund wirkte. Er kannte den Inhalt des Schreins sehr genau, doch sehen hatte er nur die Phiole können. Der Rest der Gegenstände lag im Dunkeln, im Verborgenen, in einem Schlund des Vergessens.
Theodus starrte den kleinen Wandschrank wie ein Tor an, aus dem jeden Augenblick die Dämonen der Vergangenheit herausspringen würden.
»Zeit, noch einmal loszuschlagen, alter Mann.«
Er drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte zur Tür. Dabei rutschte er auf den glitschigen Pergamenten aus. Er wedelte mit den Armen und für einen Moment schien die Schwerkraft zu triumphieren, doch dann gewann das Gleichgewicht die Oberhand. Theodus stand wieder sicher, atmete etwas verärgert durch die Nase und zog seinen Talar glatt.
Da wurde im klar, dass seine Entschiedenheit sich zu ändern, von dem abgewetzten, geflickten Etwas, das einmal das Gewand eines Würdenträgers gewesen war, nicht geteilt wurde. Er öffnete die Tür einen Spalt und blickte auf den Flur.
Es war nicht viel los. Nur vereinzelt kamen um diese Zeit des Tages noch Adepten vorbei, die in den Studierzimmern, Sammlungen und Laboratorien noch den letzten Rest des Tageslichtes zum Lesen oder Schreiben genutzt hatten, ohne Lampenöl investieren zu
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