Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anlass

Anlass

Titel: Anlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ambler
Vom Netzwerk:
Schwiegersohn, ein unangenehmer junger Mann mit einer großen Warze am Kinn, verbrachten die längste Zeit damit, den Alten zu tyrannisieren. Dieser lutschte unglücklich an seinem zahnlosen Kiefer und hörte den beiden abwechslungsweise zu. Sie sprachen Dialekt, und ich konnte wenig verstehen, aber mir tat der alte Mann leid. In Pontebba stiegen sie aus. Ein Mann, der wie ein Bauer aussah, stieg ein und warf ein Bündel ins Gepäcknetz.
    Wir waren durch ein Flußtal gefahren, aber jetzt kam eine stärkere Steigung. Zwischen den Hügeln hindurch konnte man hin und wieder einen Blick auf dahinterliegende fichtenbewachsene Abhänge erhaschen und auf treibende Nebel, die wie lange, dünne, graue Vorhänge von einer hohen Decke herunterhingen. Zaleshoff sah sie mit gerunzelter Stirn an. Der Bauer war auf den Korridor gegangen und lehnte rauchend am Fenster. Zaleshoff stand auf und folgte ihm. Ich blieb, wo ich war. Die Landschaft faszinierte mich. Die Wolken waren in ständiger Bewegung und nahmen immer neue Formen an. Sie erinnerten mich an die Hände eines Zauberers, der durch geheimnisvolle Bewegungen einen Geist beschwört. Der ganze Vorgang, wie sie so schwefelgelb über die Hügel schwebten, hatte etwas Theatralisches an sich. Ich mußte an Illustrationen zu Paradise Lost denken. Die Sonne schien nicht, der Himmel war bleiern. Auf einmal wurde es sehr kalt. Der Zug fuhr durch einen Tunnel.
    Draußen auf dem Gang sprach Zaleshoff mit dem Bauern. Im gelben elektrischen Licht sah ich seine Lippen sich bewegen, aber seine Worte gingen im Rattern des Zuges unter. Dann sah ich, wie er dem Mann zunickte. Er kam ins Abteil zurück, schob die Tür zu und setzte sich, die Hände auf den Knien, mir gegenüber. Er sah besorgt aus. Der Zug fuhr aus dem Tunnel.
    »Was gibt’s?«
    »Seine Mundwinkel senkten sich. › Schlechte Nachrichten‹.«
    »Was ist denn?«
    »Der Mann kommt aus Fusine. Dort oben hat es die letzten zwei Tage geschneit.«
    »Im Mai!«
    »Der Sommer kommt in den Bergen immer um zwei Monate später. Das ist schlimm, Marlow. Er sagt, der Schnee liegt in Höhen über 1000 Meter fast einen Meter tief. Er sagt, sie haben auf allen Straßen Schneepflüge eingesetzt, aber ein paar Dörfer höher oben sind noch abgeschnitten. Während der ganzen Nacht hat es stark gefroren, und es wird noch mehr Schnee kommen. Da die Sonne nicht scheint, taut der Schnee auch nicht auf.« Er betrachtete den bleiernen Himmel. »Das da wird vermutlich heute nacht herunterkommen. Wir haben ein verdammtes Pech.«
    »1000 Meter, das ist hoch.«
    »Wenn man es vom Meeresspiegel rechnet, ja. Aber die Gegend von Fusine liegt schon über 00. Selbst wenn wir uns an die Hauptstraße zur Grenze hielten, wären wir noch immer über der Schneegrenze. Aber das können wir nicht tun. Wir müssen der Straße ausweichen, und das bedeutet, daß wir noch höher hinauf steigen. Wenn das Wetter gut wäre, so würde uns der Marsch einen guten Appetit fürs morgige Frühstück verschaffen, aber bei heftigem Schneefall in den Bergen sind wir schlimm dran.«
    »Ein bißchen Schnee wird uns sicher nicht schaden.«
    Er schnauzte mich an. »Ein bißchen Schnee! Wir sind hier nicht in England. Sind Sie je in den Bergen gewesen, wenn es schneite?«
    »Nein.«
    »Na, dann reden Sie keinen Unsinn. Es wäre schon keine Sonntagswanderung, wenn wir uns an die Straße halten könnten. Aber abseits davon ist es der reinste Selbstmord. Und dann noch etwas. Sehen Sie diese Wolken? Wenn es heute nacht nicht schneit, müssen wir uns einen Weg durch diese Wolken suchen.«
    »Was schlagen Sie also vor?«
    Er zog die Stirn in Falten. »Ich weiß es nicht. Verdammt, ich weiß es wirklich nicht. Wenn heute abend ein Zug nach Udine zurückginge, würde ich sagen, wir sollten ihn nehmen. Aber der einzige Zug in dieser Richtung kommt von der andern Seite der Grenze, und sie könnten im Zug die Pässe sehen wollen. Es könnte alles gut gehen, aber wir dürfen nichts riskieren. Wenn wir uns im Freien verstecken, kriegen wir todsicher eine Lungenentzündung. Sogar unterhalb der Schneegrenze ist es kalt und naß bei diesen Wolken.«
    »Gibt es in Tarvisio kein Dampfbad?«
    »Soll das ein Witz sein?« sagte er ärgerlich.
    »Können wir es nicht ebenso machen wie letzte Nacht?«
    »Tarvisio ist nicht viel mehr als ein großes Dorf. Um zehn Uhr wird alles zugemacht. In dieser Gegend geht man früh schlafen.«
    »Nun, wenn wir nicht zurückgehen und auch nicht in Tarvisio bleiben können,

Weitere Kostenlose Bücher