Anlass
erwartete jeden Moment, daß sich Hände um meinen Arm legen und mich zurückhalten würden. Aber da waren keine Hände. Dann stand ich wie im Traum bei der Gepäckaufbewahrung, und der Träger stand neben mir und wartete auf sein Trinkgeld. Ich fuhr mit der Hand in die Tasche und zog die erste Münze hervor, die mir in die Finger kam. Ich sah, wie der Träger sie anstarrte, als sie auf seiner Handfläche lag, und zu spät merkte ich, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Ich hatte ihm zehn Lire gegeben. Er würde sich bestimmt an mich erinnern. Unwirsch winkte ich seinen Dank ab und wandte mich zum Gehen. Der Beamte der Abgabestelle rief mich zurück, denn ich hatte meinen Gepäckschein vergessen. Ich nahm ihn und stapfte schweißgebadet auf den Bahnhofplatz zu.
Zaleshoff wartete in einiger Entfernung auf mich. Ich erzählte ihm, was mir passiert war. Er zuckte die Achseln.
»Da kann man nichts machen. Haben Sie Ihren Gepäckschein? Gut, zerreißen Sie ihn und werfen Sie ihn weg. Ich habe Handkoffer mit Adreßschildern genommen, so werden sie die Eigentümer schließlich zurückbekommen. Nun wollen wir etwas frühstücken. Die Läden machen erst in einer Stunde auf.«
Als wir uns in einem caffè in einiger Entfernung vom Bahnhof niedergelassen hatten, setzte die Reaktion ein. Ich zitterte am ganzen Körper. Das letzte, wonach ich Verlangen hatte, war Nahrung. Zaleshoff lächelte mitfühlend.
»Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie etwas Kaffee getrunken haben. Es war ja nicht so schlimm. Vergessen Sie nicht, daß die nach zwei Burschen in Eisenbahnermänteln Ausschau hielten.«
»Schon gut, aber ich hab trotzdem das große Zittern.«
»Na, wir haben jetzt reichlich Zeit. Wir können uns ein bißchen verschnaufen. Sobald die Läden aufmachen, wollen wir uns Schuhe kaufen, neue Hüte, zwei Hemden und zwei. kleine Handtaschen. Ich werde Ihnen auch eine Brille besorgen. Sie ist zur Verkleidung nicht viel wert, aber sie wird Ihnen Sicherheit geben. Wir können uns in irgendeiner Toilette umziehen und das, was wir jetzt anhaben, in die Taschen stecken. Dann werden wir Fahrkarten nach Vicenza kaufen, wie vernünftige, respektable Leute. Heute nachmittag können wir schon in Udine sein.«
»Wenn wir hier nicht geschnappt werden.« Es fiel mir auf, daß sein Gesicht wieder normal aussah. »Was hatten Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?«
»Ich habe mein Taschentuch in Streifen gerissen und kleine Rollen davon gemacht, wie die Zahnärzte sie einem in den Mund stopfen. Sie steckten in meinen Backentaschen, und ich habe mich beinahe erbrochen, als ich den Bahnsteig entlang ging. Ich hab auch ein bißchen meine Augenbrauen rasiert.« Er stand auf. »Ich komme gleich zurück, ich will nur eine Zeitung kaufen.«
Als er zurückkam, hatte ich etwas Kaffee zu mir genommen und fühlte mich besser, körperlich und seelisch. Er sah ernst aus.
»Was gibt’s?«
Er reichte mir die Zeitung. Wie der blauäugige Träger gesagt hatte, hatten sie jetzt auch Zaleshoffs Personenbeschreibung beigefügt. Man vermutete uns noch in der Gegend von Treviglio. Aber die Zeitung war schon vor Stunden gedruckt.
»Mir scheint, das macht es auch nicht schlimmer«, sagte ich.
»Nein, das wohl nicht. Was mir Sorgen macht, ist das, was sie nicht gedruckt haben.«
»Was zum Beispiel?«
Aber er antwortete nicht. »Es steht noch etwas drin, was Sie interessieren wird«, sagte er. »Seite drei, Spalte zwei, oben.«
Ich fand es. Es war eine kurze Notiz unter der Überschrift:
DIE POLIZEI VERMUTET
Mailand, Freitag.
Im Hinterhof eines Hauses am Corso di Porta Nuova wurde gestern Nacht eine schwerverletzte Frau gefunden, die dann auf dem Transport ins Krankenhaus starb. Es wird angenommen, daß sie aus einem Fenster des vierten Stocks gefallen ist. Ein Diener namens Ricciardo Fiabini identifizierte die Tote als Signora Vagas, die Gattin des Generalmajors J. L. Vagas aus Belgrad, der in Mailänder Musikkreisen wohlbekannt ist. Der General ist zur Zeit im Ausland.
Ich blickte auf. »Warum hat sie das getan?«
Er zuckte die Achseln. »Sie war verrückt, und als Vagas entkam … Aber man kann nicht erklären, wie das Hirn einer solchen Frau arbeitet.« Er hielt ein und sah mich an. »Woran denken Sie? Wollen Sie einen Kranz schicken?«
»Nein«, sagte ich langsam. »Ich fragte mich aber, ob Ricciardo zum Begräbnis gehen wird.«
Sobald die Geschäfte aufmachten, besorgten wir unsere Einkäufe. Bald nach neun Uhr bestiegen wir einen langsamen
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