Anlass
überquerte, um die Via Monte Napoleone hinunterzugehen, sah er eine schwarze Luxuslimousine am Bordstein stehen. Aber es war nicht der einzige Wagen, und so fiel sie ihm nicht weiter auf. Erst als er sich durch das Straßengewirr hinter den öffentlichen Anlagen hindurchkämpfte, bemerkte er, daß der Wagen ihm offensichtlich folgte. Er hörte ihn im ersten Gang hinter sich herwimmern und sah auch durch den Nebel den gelben Schimmer der Scheinwerfer. Er ging weiter und sagte sich, daß der Fahrer wohl den Weg verloren habe. Da geschah es.
Der Nebel hatte sich auf einige Meter vor ihm gelichtet. Er betrat die Straße, um den Weg abzukürzen. Sekundenbruchteile später beschleunigte der Wagen heftig. Er warf sich herum und sah das Auto auf sich zu rasen. Die Scheinwerfer wurden plötzlich größer und blendeten ihn. Er schrie auf, versuchte sich mit einem Sprung zu retten. Im nächsten Moment erfaßte ihn der Wagen.
Ein grauenhafter Schmerz durchzuckte seine Beine bis zur Hüfte hinauf, und ein zweiter Schlag traf ihn, als er am Boden aufprallte. Einen Augenblick lag er regungslos da. Er realisierte undeutlich, daß er quer über dem Randstein lag. Er versuchte aufzustehen. Aber der Schmerz stieg in ihm auf, und in seinem Kopf war ein dünnes, hohes Singen. Er wußte, daß er gleich sein Bewußtsein verlieren würde, und hob eine Hand, um nach der Brieftasche zu greifen. Dies war seine letzte bewußte Bewegung.
Der Wagen hatte einige Meter weiter vorn angehalten. Ein Mann stieg vom Beifahrersitz, kehrte zurück, bückte sich und hob mit dem Daumen ein Augenlid des Verletzten. Dann kehrte er zum Wagen zurück.
»Sta bene?« fragte der Fahrer.
» Nein. Er lebt noch. Fahr zurück und gib ihm den Rest.«
Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein, spähte durchs Heckfenster und fuhr an die Ecke zurück.
»Jetzt!« sagte der Mann neben ihm.
Der Wagen machte einen Satz. Die Räder überrollten zweimal etwas und kamen am Bordstein zum Stehen. Der Mann stieg wieder aus und ging zurück. Als er den Wagen erreichte, wischte er sich die Finger am Taschentuch ab.
»Sta bene?« fragte der Fahrer.
»Bene.« Er setzte sich auf seinen Sitz und schlug die Tür zu. »Sobald wir dem Hauptquartier Meldung gemacht haben«, sagte er, als sich der Wagen langsam über die Straßenbahnschienen entlang der Hauptstraße bewegte, »leere ich eine halbe Flasche Cognac. Dieser Nebel schlägt mir auf die Brust.«
Dies geschah zwanzig Minuten bevor ein Kind schreiend zu seiner Mutter lief und ihr vorschluchzte, ein Mann liege auf der Straße in seinem Blut.
1. Kapitel
Erste Ursachen
F
ast zehn Wochen jenes Jahres, 1937, verbrachte ich in Italien. Und über diese zehn Wochen will ich Ihnen berichten. Ich muß Ihnen erzählen, weshalb ich überhaupt dorthinfuhr und warum – und vor allem wie – ich das Land wieder verließ.
Ich sagte, ich »muß Ihnen erzählen«. Dieses »Muß« bedarf einer Erklärung. Ich glaube, für das, was ich getan habe, brauche ich mich nicht zu entschuldigen, aber ich bin bestimmt auch nicht stolz darauf. Sie werden wahrscheinlich sagen, ich hätte mich recht dumm angestellt, und für das, was passierte, trüge ich und kein anderer die Schuld. Wenn Sie zu diesem Schluß kommen, kann ich Ihnen nur recht geben. Aber meine Zustimmung wird ebenso höflich wie unaufrichtig sein. Ich würde Sie nämlich verdammt gern fragen, was denn Sie an meiner Stelle getan hätten. Wie Sie bemerken, habe ich kein sehr ausgeglichenes Temperament. Ich bin mir im klaren darüber, daß ich, wenn auch ich die Geschichte erzähle, darin nicht sehr gut wegkomme; keiner wird gern daran erinnert, daß er ein Trottel ist. Wenn ich die Geschichte trotzdem niederschreibe, so nur aus einem Grund: ich möchte festhalten, welche Rolle Professor Beronelli, ehemals Universität Bologna, in der ganzen Sache spielte.
Nun hätte ich Ihnen die Fakten mitteilen können, wie sie seine Tochter Simona Zaleshoff und mir in jener Nacht erzählte, bevor wir über die Grenze nach Jugoslawien gingen. Aber die bloßen Fakten genügen nicht. Sie können die Tragödie dieses Mannes nicht wiedergeben. Man reduziert ja auch den Oedipus des Sophokles nicht ungestraft zu einer Zeitungsnotiz. Ich mußte also die ganze Geschichte jenes Abends erzählen. Das bedeutete, ich mußte auch schildern, wie ich dorthin gekommen war. Allmählich sah ich, daß die Beronelli-Geschichte die Klimax einer anderen Geschichte – meiner eigenen – war, aber ich hatte Zaleshoff
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