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Anlass

Anlass

Titel: Anlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ambler
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Aufmerksamkeit von einem anderen Phänomen angezogen. Winzige Partikel, die in einer Flüssigkeit von gleichmäßiger Temperatur gehalten werden, sind in ständiger Bewegung. Die Tatsache ist allgemein bekannt, aber man hat früher geglaubt, daß das eine Bestätigung für die Gesetze der Thermodynamik ist, die beweisen, daß es so etwas wie eine ständige Bewegung nicht gibt. Die Gesetze gelten, wie man annimmt, für alle untersuchbaren Phänomene. Aber hier, schien mir, war ein Riß in der Rüstung der Orthodoxie, den ich für meine eigenen Zwecke ausnutzen konnte. Der Wert meines Scherzes hing von der ausführlichen Darlegung einer Hypothese ab. Ich machte mich an die Arbeit.«
    Wieder traf sein Blick den meinen.
    »Ich habe oft gedacht, Signor Maurer, daß eine enge Affinität zwischen reiner Mathematik und Musik besteht. Eine musikalische Idee hat, ästhetisch gesprochen, soviel Gemeinsames mit einer mathematischen Konzeption, daß ich manchmal denke, es müsse möglich sein, eine Symphonie in mathematischen Termini zu schreiben. Der einfache Prozeß der Integration zum Beispiel ist durchaus orchestral in seiner Qualität. Empfinden Sie das auch, Signor Maurer?«
    Ich sagte: »Meine Anwendung der Mathematik hat immer nur aktuellen praktischen Zwecken gedient.«
    »Ach ja. Richtig. Sie sind Ingenieur. Aber für mich ist Farbe und Bewegung darin. Ich verliere mich in den Gesetzmäßigkeiten, die ich selber schaffe. So ging es mir auch mit diesem Beweis, den ich erbringen wollte. Ich vergaß, daß es ein Scherz war. Meine Gedanken richteten sich nur noch darauf, das Unmögliche zu beweisen. Fast achtzehn Monate arbeitete ich daran. Dann hatte ich erreicht, was ich mir vorgenommen hatte.«
    Er schwieg. Als er fortfuhr, sprach er mit viel Überlegung. »Und dann, Signor Maurer«, sagte er – »und dann ereignete sich das Unglaubliche.«
    Ich wartete wieder.
    »Achtzehn Monate sind eine lange Zeit«, fuhr er fort, »und meine Gedanken waren vielleicht ein bißchen von meiner eigentlichen Absicht abgekommen. Aber das war es nicht. Große Konzentration verursacht oft eine falsche Perspektive. Davor muß der Wissenschaftler immer auf der Hut sein. Aber« – er beugte sich zu mir vor und verlieh jedem Wort mit einer Handbewegung Nachdruck – »ich stand dem Unglaublichen gegenüber. Ich hatte eine logische Basis für meine Hypothese gefunden. Danach hatte ich gesucht. Ich hatte die Möglichkeit ständiger Bewegung bewiesen, und nun konnte ich die Täuschung, die in meiner Beweisführung stecken mußte, nicht mehr finden.«
    Er atmete tief und seufzte.
    »Erst war ich böse auf mich, böse und auch besorgt. Ich weiß nicht recht, warum. Nach so viel Arbeit war mein Hirn zweifellos ermüdet. Ich legte die Arbeit beiseite. Aber ich konnte sie nicht vergessen. Sie ließ mich nicht los. Irgendwo mußte ein Fehler sein. Davon war ich überzeugt. Eines Tages setzte ich mich hin und begann noch einmal von vorn. Ich hämmerte an jedem Glied der Argumente, untersuchte jede Einzelheit. Sie bestanden die Prüfung. Ich versuchte es wieder. Ich verbrachte Tage und Nächte damit und versuchte diese Kette mathematischer Logik zu zerbrechen. Mein Körper war erschöpft, aber mein Geist arbeitete weiter. Ich wußte, daß ich noch nie so klar gedacht hatte. Mein Verstand arbeitete scharf wie ein Rasiermesser. Wieder und wieder überprüfte ich alles.
    Und dann, eines Tages, lehnte ich mich in meinen Stuhl zurück und wußte, daß da kein Betrug und kein Fehler war. Ich war durch Zufall auf die Wahrheit gestoßen. Ich fand mich der unglaublichen Tatsache gegenüber, daß die Gesetze der Thermodynamik auf einem gigantischen Mißverständnis basieren, daß das unverletzbare Prinzip der Erhaltung der Materie verletzt worden war, daß der größte Teil unseres wissenschaftlichen Gebäudes nichts als ein Kartenhaus war.«
    Seine Stimme hatte sich gehoben, seine Wangen waren gerötet, und seine Augen brannten intensiver als je. Er schwieg eine Weile und fuhr dann ruhiger fort.
    »Mehrere Wochen behielt ich dieses Wissen für mich. Die Vorstellung ging über meine Kraft. Ich konnte sie nicht fassen. Dann erinnerte ich mich an das Experiment von Michelson und Morley, und wie dessen Resultate Anlaß zu weitgehenden Trugschlüssen gegeben hatten, mit denen erst Einstein aufräumte. War es möglich, daß sich schon früher Trugschlüsse unvermutet in das Rüstzeug der klassischen Mechanik eingeschlichen hatten? Meine Theorie ließ vermuten, daß das

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