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Anlass

Anlass

Titel: Anlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ambler
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Maurer. Mein Name ist Dietz. Wir stammen beide aus deutschen Familien, aber wir leben in Locarno.«
    Er nickte. »Ach ja. Ein schönes Land, die Schweiz. Leider kenne ich es nicht. Ich heiße Carlo Beronelli, und dies ist meine Tochter Simona.«
    »Fortunatissimo« , sagte Zaleshoff.
    Aber ich überlegte. Carlo Beronelli! Der Name kam mir bekannt vor. Und dann erinnerte ich mich, daß er gesagt hatte, er sei Mathematiker. Jetzt wurde mir klar, warum der Name mir vertraut war.
    »Ich glaube, Signore«, sagte ich lächelnd, »dann habe ich Ihnen für mehr als eine Nacht Gastfreundschaft zu danken. Sie sind doch Professor Beronelli, von der Universität Bologna?«
    Freude erhellte sein Gesicht. »Sie erinnern sich an mich, Signore? Es ist schon viele Jahre her, daß ich mich von der Universität zurückzog. Ich kann mir nicht vorstellen, wie …«
    »Mein Tutor empfahl mir Ihr Werk über klassische Mechanik, als ich mich auf mein Examen vorbereitete.«
    Er geriet merkwürdig in Eifer. »An welcher Universität?«
    Ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig daran, daß ich Herr Maurer aus Locarno war. »Zürich, Herr Professor.« Ich fühlte, daß diese Wendung des Gesprächs Zaleshoff nicht recht war.
    »Sie sind Physiker, Signore?«
    »Nein, Herr Professor, Ingenieur.«
    »Aber Sie haben mathematische Kenntnisse?« insistierte er.
    »Ja. Ich …« Plötzlich sah mir seine Tochter gerade in die Augen. Sie hatte sich halb in ihrem Stuhl umgedreht und starrte mich an. Ihre dunklen Augen waren weit offen. Einen Augenblick konnte ich ihren Ausdruck nicht deuten. Als ich ihn dann verstand, war ich ganz baff. Sie hatte Angst. Etwas, das ich gesagt hatte, machte ihr Angst. Mit einiger Anstrengung wandte ich mich wieder ihrem Vater zu. Ich war verwirrt. »Natürlich«, sagte ich, »ist es lange her.«
    »Ja, ja, natürlich.« Es schien, als müsse er seine Aufregung unterdrücken. Dann schaute er mich erstaunt an. »Ich kann mich nicht erinnern, daß das Buch ins Deutsche übersetzt worden ist. Ins Englische, ja, aber die Deutschen haben selber ein sehr gutes Lehrbuch. Wie heißt doch gleich der Verfasser?«
    »Ich habe Ihr Buch natürlich im Original gelesen.«
    »Ach ja? Das war sehr gescheit von Ihnen.«
    »Man kann ja auch eine Fremdsprache viel leichter lesen als sprechen.«
    »Das stimmt.« Seine Finger spielten unruhig mit der Kordel seines Schlafrocks. Er schien etwas sagen zu wollen und wußte nicht, wie er anfangen sollte. Das Schweigen machte mich verlegen. Ich wich dem Blick der Tochter aus. Dann begann er wieder zu sprechen und wählte seine Worte sehr sorgsam.
    »Ja, es ist lange her, seit ich das Buch schrieb, und« – er lächelte nervös – »man ändert seine Vorstellungen in zwanzig Jahren. Man bleibt immer ein Lernender. Heute würde ich vieles in dem Buch ändern. Es ist sonderbar, Signor Maurer, wie man immer glaubt, nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr werde man zu unanfechtbaren Ergebnissen gelangen. Und doch ficht man sie immer wieder an. Morgen ist nur ein anderer Tag. Daß ein Mathematiker, der mit solchen Abstraktionen wie Null und der Quadratwurzel aus negativen Größen zu tun hat, gleichzeitig so bestimmt auf der Existenz mathematischer Wahrheit bestehen kann, ist ein Paradoxon, das man nicht begreifen kann. Ja, ich würde das Buch gerne neu schreiben.«
    »Lassen Sie mich Ihnen versichern, Herr Professor, daß es als Lehrbuch alle Vorzüge hat, die man sich als Student nur wünschen kann. Es wurde mir als das beste Buch über den Gegenstand empfohlen. Einzig die Papierqualität hätte besser sein können. Die nächsten Seiten schienen immer durch. Das Buch ist ein Standardwerk, das keine Revision nötig hat.«
    Er lächelte nachsichtig. »Ach, Signore, ich sprach nicht von Revision. Ich sprach von Neuschreiben.« Seine leuchtenden Augen fixierten mich. »Das Buch, Signore«, sagte er rundheraus, »ist ein Gewebe von phantastischen Absurditäten.«
    Ich lächelte auch. Vielleicht war ein Druckfehler auf einer Seite, überlegte ich. Gelehrte neigen sehr zu Übertreibungen. »Dann sind Sie, Professor, der einzige, der diese Tatsache entdeckt hat«, sagte ich.
    »Ja«, sagte er düster. »Ich bin der einzige, der das entdeckt hat. Und ich habe es auf seltsame Weise entdeckt …«
    »Vater!«
    Der Ausruf klang ausgesprochen hysterisch. Sie war aufgestanden, als sie das sagte, und sah uns kalt an. Ich konnte es nicht verstehen.
    »Was gibt’s, Simona?« fragte er irritiert.
    Sie schien

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