Anlass
Signor Maurer.«
Sein Blick heftete sich jetzt auf mein Kinn. Seine Augen waren trüb geworden. Sein Kopf bewegte sich leicht – ganz leicht – von einer Seite zur andern.
Ich beherrschte mit Anstrengung meine Stimme. »Ja, Herr Professor. Sie haben recht.«
Er lächelte.
Die Frau kam herüber und stand hinter seinem Stuhl. Sie sah uns nicht an. Sie sprach sehr leise.
»Es ist Zeit zum Schlafengehen, Vater. Du hast heute viel gearbeitet, und wenn du morgen weiterarbeiten willst, brauchst du Ruhe.«
Ohne zu sprechen, stand er auf und gestattete ihr, ihn zur Tür zu führen. Ich hätte vor Erleichterung aufschreien können.
Dann wandte er sich plötzlich um und starrte uns an. Seine Augen blitzten wieder, aber sie waren schmal geworden. Jetzt war ein listiger Ausdruck darin.
»Simona«, sagte er bedächtig, »ich werde diesem Herrn meine Berechnungen zeigen. Nein! Unterbrich mich nicht!« Seine Lippen zogen sich etwas von den Zähnen zurück. »Ich bin mir darüber im klaren, Simona, daß du insgeheim glaubst, ich sei verrückt und könne nicht mehr arbeiten. Ich weiß auch, daß du aus Angst die Veröffentlichung hinauszögern willst.«
Sie hielt den Atem an. »Nein, Vater, das ist nicht wahr!« Ihre Stimme war schrill vor Furcht.
Er lächelte. »Selbst wenn es wahr wäre, Simona, würde mich das nicht hindern. Ich werde schon wissen, wann die Zeit für die Veröffentlichung gekommen ist. Ich möchte diesem Herrn meine Arbeit zeigen. Er wird sie verstehen und Achtung davor haben. Vielleicht wird er nicht alles verstehen, aber er wird dir sagen, daß deine Zweifel grundlos sind.« Er lächelte mir zu. »Ich werde das Manuskript holen. Entschuldigen Sie mich bitte.«
Sie beobachtete ihn, wie er hinausging. Dann wandte sie sich rasch uns zu. Sie blickte von Zaleshoff zu mir. Ihre Hände waren in die Seiten verkrampft. Plötzlich begann sie schnell und atemlos zu sprechen.
»Signor Maurer, der Weg über die Grenze ist unter dem Schnee schwer zu finden, wenn man ihn nicht kennt. Nein, unterbrechen Sie mich nicht. Sie verlieren Ihre Zeit. Sie würden den Weg wohl kaum finden und sich verirren. Sie könnten den ganzen Tag zwischen den Bäumen herumirren und ihn nicht finden. Aber ich kenne ihn gut. Ich könnte Sie führen. In zwei Stunden kann ich Sie in eine sichere Gegend bringen. Und ich werde es tun. Aber« – sie richtete sich gerade auf – »Signor Maurer, Sie werden erschrecken, wenn Sie das Manuskript meines Vaters sehen. Bitte lassen Sie ihn das nicht merken. Er ist … ganz harmlos, und ich möchte nicht, daß er nutzlos leidet. Ich kann Ihnen helfen. Ich habe sehr wenig Geld, aber wenn Sie etwas brauchen, werde ich es Ihnen geben. Ich bitte Sie nur, zu vergessen, was Sie heute abend gehört haben, und behalten Sie die gute Arbeit in Erinnerung, die mein Vater früher geleistet hat. Und wenn Sie ein paar anerkennende Worte finden für das, was er Ihnen zeigt, so bitte ich Sie …« Sie hielt inne und schluchzte.
Ich war von meinem Stuhl aufgestanden. Nun sank ich zurück. Ich war erschrocken und verlegen.
Zaleshoff warf seinen Zigarettenstummel ins Feuer. »Sie haben also die Zeitungen gelesen, Signorina?« Er zog seine Decke dichter an sich. »Wir hofften, Sie hätten hier keine in die Hand bekommen.«
»Heute morgen wurde der Weg von Tarvisio freigeschaufelt, und« – sie versuchte zu lächeln – »die Zeitungen kamen zugleich mit dem Gemüse, das in Ihrer Suppe war. Ich erkannte Signor – Signor Maurer sofort, als er ins Licht trat. Ich hätte nichts gesagt. Wir sind hier weit weg von der Polizei, und ich hatte Angst. Aber jetzt …« Sie wandte sich mir wieder bittend zu. »Es ist nicht viel, um was ich Sie bitte, Signore, und ich …«
Im Gang konnte man Schritte hören, und Beronelli kam ins Zimmer. Er trug ein großes, in Leder gebundenes Buch unterm Arm. Seine glänzenden Augen flackerten mißtrauisch von einem zum andern.
»Worüber habt ihr gesprochen, Simona?« fragte er scharf.
»Ihre Tochter erzählte uns«, sagte Zaleshoff, »daß Sie hoffen, Ihr Manuskript in drei Monaten zu beenden.«
Ohne zu antworten, kam der alte Herr zu mir herüber und zog seinen Stuhl nahe an meinen.
»Sie, Signor Maurer, sind der erste Mensch, der dieses Manuskript zu sehen bekommt. Das heißt, mit Ausnahme meiner Tochter, die aber nichts von Mathematik versteht. Das erste Manuskript habe ich nach dem Verrat meines Kollegen vernichtet. Dies ist das Manuskript, das ich für den Druck gemacht habe. Es
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