Anlass
ist einfacher, klarer. Wie ich schon sagte, ist es nicht ganz fertig.« Sein Blick ließ den meinen nicht los. »Sie mögen meine Methode, den Fall darzulegen, zuerst etwas seltsam finden. Ich war gezwungen, ein etwas modifiziertes System von Anmerkungen zu erfinden, um gewisse abstrakte Größen darzustellen. Aber ich glaube, Sie werden das Wesentliche ohne Schwierigkeiten verstehen.«
Sorgsam legte er das Buch in meine Hände. Sein Benehmen war ruhig und würdig. Er sprach leise und ernst. Einen Augenblick schoß mir der unerhörte Gedanke durch den Kopf, daß er vielleicht nicht geistesgestört sei, daß wieder einmal in der Geschichte der Menschheit ein Genie im Verborgenen aufgeblüht war. Dann öffnete ich das Buch auf der ersten Seite.
Im nächsten Augenblick zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich wollte zu Zaleshoff und der Frau aufschauen, aber ich wagte es nicht, denn ich wußte, daß er mich beobachtete. Ich fühlte, wie ich rot wurde, und lehnte meinen Kopf auf meine linke Hand, um mein Gesicht vor ihm zu verbergen. Starr blickte ich auf das Buch.
Die Seite war bis an den Rand mit kindischen Bleistiftkritzeleien bedeckt. Und doch waren sie nicht ganz kindisch. In der Mitte war eine riesige Acht in ein Kubikwurzelzeichen gezeichnet. Der Raum innerhalb der Acht war mit konzentrischen Kreisen angefüllt. Die Kreise waren dann so zusammengefügt, daß sie eine Spirale bildeten. Der Rest der Seite war mit sorgsam gezeichneten Spiralen in der Größe eines Pennys ausgefüllt. In eine Ecke war ein Gesicht gezeichnet. Seine Konturen waren aus kleinen Bogen zusammengesetzt, die mit dem Zirkel gezogen waren. Die Augen waren kleine Spiralen.
Er sagte mir leise ins Ohr: »Die Kubikwurzel aus acht ist Gott.«
Ich nickte und schlug die Seite um. Die nächste war ziemlich gleich, nur enthielt sie mehr Zahlen. Alle Zwischenräume waren mit Spiralen angefüllt. Das italienische Wort für Gott, ›Dio‹ , war in Druckschrift über eine Ecke geschrieben. Ich blätterte weiter. Da waren noch mehr Spiralen, noch mehr Zahlen und weitere Gesichter. Ich suchte verzweifelt nach etwas, was ich sagen könnte. Es herrschte völlige Stille. Um Zeit zu gewinnen, schlug ich langsam die Seiten um. Einmal, als ich zwei zugleich umschlug, beugte er sich vor und blätterte eine zurück. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich lehnte mich zurück, schloß das Buch und sah zu ihm auf.
Er beobachtete mich wie ein Terrier ein Rattenloch.
Ich versuchte ein Lächeln. »Herr Professor«, sagte ich und bemühte mich, das Zittern aus meiner Stimme fernzuhalten, »wenn ich viel älter wäre und mein Leben mit dem Studium der Mathematik verbracht hätte, könnte ich etwas über Ihr Werk sagen. Sie haben meine Kenntnisse überschätzt. Meine Achtung vor Ihrem Wissen ist groß, aber dies geht über mein Begriffsvermögen. Niemand macht sich gern lächerlich, und wenn ich hierüber diskutieren wollte …«
Ich spürte einen Druck in meiner Kehle und fühlte, wie mir das Blut aus den Wangen wich. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge. Er lächelte gütig.
»Ich habe zuviel vorausgesetzt«, sagte er. »Sie können nicht in so kurzer Zeit das in sich aufnehmen, was ich in vielen Jahren erarbeitet habe. Aber es machte Eindruck auf Sie, das konnte ich sehen.« Er lächelte wieder. »Und ist da irgend etwas, Signor Maurer, was den Verdacht erwecken könnte, daß ich die elementaren Prinzipien der Mathematik vergessen habe?« In seiner Stimme klang leiser Spott.
»Nichts«, sagte ich und riß mich zusammen. »Es war eine große Auszeichnung, das Manuskript sehen zu dürfen.«
Er nahm mir das Buch ab und stand auf. Er legte seine Hand auf die Stirn.
»Sie entschuldigen mich, Signori, ich werde jetzt schlafen gehen. Ich beginne frühmorgens mit der Arbeit, wenn mein Geist noch frisch ist, und Sie möchten sicher gern etwas ausruhen. Würde es Ihnen nicht vielleicht möglich sein, ein paar Tage bei uns zu bleiben?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Zaleshoff, »aber leider müssen wir morgen in die Schweiz zurück.«
Er nickte höflich. »Sehr schade. Aber wir dürfen Sie natürlich nicht aufhalten.«
Er reichte uns etwas abwesend die Hand, neigte sich zu seiner Tochter und küßte sie. »Gute Nacht, Simona.«
»Gute Nacht, Vater.«
Seine Schritte verhallten im Gang. Ich sah, wie ihre Lippen plötzlich zitterten und Tränen über ihre Wangen liefen. Zaleshoff stand auf und ging zu ihr. Sie schaute zu mir herüber und
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