Anlass
durchstöbern.
»Übrigens«, murmelte er, indem er den Kopf etwas umwandte, »haben Sie die Absicht, Vagas’ Einladung anzunehmen?«
Die Frage irritierte mich. »Ich habe wirklich noch nicht darüber nachgedacht. Warum?«
Aber in dem Augenblick stieß er einen Ruf der Befriedigung aus. »Ach, hier ist sie.« Er zog eine große Karte aus der Mappe und brachte sie zum Licht. »Also das ist der verstorbene Mr. Ferning.«
Ich nahm die Karte. Rechts oben in der Ecke aufgeklebt war ein Brustbild eines Mannes in mittleren Jahren. Abgesehen von ein paar Haaren über den Ohren war er kahl. Das Gesicht war rund und gedunsen, mit kleinen, ängstlich dreinschauenden Augen und unentschlossenem Mund, der sich eben zu einem Protest zu verziehen schien. Es war ein nichtssagendes, gewöhnliches Gesicht. Ich sah mir den Rest der Karte an. In der linken oberen Ecke stand geschrieben: »F 326.« Die untere Hälfte nahm ein an den Ecken angeklebter maschinegeschriebener Streifen ein:
Sidney Arthur Ferning. Geboren in London 1891. Ingenieur. Mailänder Vertreter der Spartacus Machine Tool Company Ltd. Wolverhampton, England. Auf der Straße in Mailand umgekommen. (Hier folgte das Datum). Siehe V 18.
Ich las es noch einmal durch und betrachtete dann wieder die Fotografie. Eine Ecke davon hatte sich etwas von der Karte losgelöst. Ohne etwas dabei zu denken, preßte ich sie wieder nieder. Da sie nicht haften wollte, hob ich sie ein wenig auf, um sie zu befeuchten.
Es geschah fast unbewußt, um Zeit zu gewinnen. Es war offenbar nichts Zufälliges und Unüberlegtes an dieser Karte. Meine Gedanken kehrten zum Restaurant zurück. Er wollte alles über die Fotografie vergessen haben. Vor ein paar Minuten hatte er »versucht, sich zu erinnern«, wo sie sich befand.
Dann bekam ich den zweiten Schock. Als ich die Ecke der Fotografie aufhob, sah ich, daß auf der Rückseite ein roter Gummistempel war, mit Namen und Adresse eines Londoner Paßfotografen. Also das war der ›Kodak-Schnappschuß‹.
Ich blickte über den Tisch. Zaleshoff beobachtete mein Gesicht mit einem leisen Lächeln auf seinen Lippen. Ich fühlte den plötzlichen Wunsch, zu gehen. Hier gab es irgend etwas, was ich nicht verstand und nicht verstehen wollte. Ich stand auf.
»Vielen Dank, Mr. Zaleshoff. Es war sehr nett von Ihnen, sich wegen meiner Neugier soviel Mühe zu machen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muß gehen. Ich muß morgen früh aufstehen.«
»Ja natürlich. Sie sagten ja, Sie müssen zur Polizei.«
»Außerdem habe ich auch Arbeit.«
»Natürlich. Aber vergessen Sie Ihren Cognac nicht, Marlow.«
Ich blickte auf das Glas, von dem ich noch nicht getrunken hatte. Ich nahm es in die Hand.
»Und rauchen Sie noch eine Zigarette dazu.« Er hielt mir die Schachtel hin. Ich zögerte. Ich konnte nicht gut den Cognac in einem Zug hinunterstürzen und weggehen. Ihn unberührt stehenzulassen wäre unhöflich gewesen. Ich nahm also eine Zigarette und setzte mich wieder. Er blies das Streichholz aus und betrachtete das abgebrannte Ende. »Wissen Sie«, sagte er nachdenklich, »ich würde mir morgen nicht die Mühe machen, zur Polizei zu gehen.«
»Sie haben meinen Paß.«
Er ließ das Streichholz fallen. »Ich mache mit Ihnen eine Wette, Marlow. Ich wette tausend Lire gegen ein Stück Seife, daß man Ihren Paß verlegt hat.«
»Um Gottes Willen, warum?«
Er zuckte die Achseln. »Ein Vorgefühl.«
»Das hoffentlich nicht stimmt. Ich nehme Ihre Wette nicht an. Es wäre die reinste Räuberei. Übrigens« – und dabei blickte ich auf die Indexkarte vor mir auf dem Schreibtisch – »katalogisieren Sie alle Ihre Bekannten?«
Er schüttelte den Kopf. »Nur einige. Eine Liebhaberei von mir. Manche Leute sammeln Muscheln, ich sammle Fotografien.«
Plötzlich beugte er sich vor, sein Kinn kam drohend näher. »Marlow, dieser Abend ist der erste unserer Bekanntschaft, und ich habe den größten Teil davon damit zugebracht, Ihnen einen Haufen Lügen zu erzählen. Vielleicht haben Sie das schon erraten, denn Sie haben da etwas entdeckt, was Sie nicht entdecken sollten. Ich wußte nicht, daß die Fotografie nicht ordentlich klebte. Na, schön und gut. Einen schlechteren Anfang für eine lebenslange Freundschaft kann ich mir kaum denken. Das gibt eine nette Atmosphäre von Versteckspiel und Mißtrauen. Es ist Ihnen klar geworden, daß Sie keine Ahnung davon haben, wer ich eigentlich bin, und Sie wollen es auch gar nicht wissen. Vermutlich halten Sie mich
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