Anlass
zuzuwinken. Fünfundzwanzig Meter. Der Beifall der Menge schwoll an und fegte durch die Straße wie eine Flutwelle über Sandbänke. Ich war beinahe krank vor Aufregung. Noch eine Sekunde, und es würde zu spät sein. Zaleshoffs wunderbarer Plan wäre mißglückt, er müßte etwas Neues ausdenken. Das Getöse der Musik und das Geschrei wurden ohrenbetäubend. Dann sah ich sie winken. Das war das Signal.
Ich stürzte vor auf die Straße und ergriff den Milizsoldaten beim Arm. Er wollte eben Haltung annehmen und wandte sich halb um, um mich abzuschütteln. Ich hielt fest.
»Meine Frau, Signore!« schrie ich ihm ins Ohr. »Wir sind in der Menge getrennt worden, und sie steht da gegenüber – kann ich hinüber?«
Während ich das sagte, ließ ich seinen Arm los und stürzte vor. Ich hörte ihn etwas hinter mir herrufen, verstand aber nichts. Da meine Frage gerade in dem kritischen Moment gekommen war, als er strammstehen wollte, war er so aus der Fassung gebracht, daß er mich nicht zurückhielt. Jetzt war es zu spät. Ich war schon halb über die Straße.
Es konnte nicht länger als acht Sekunden gedauert haben, bis ich drüben war, aber mir schien es wie acht Minuten. Ich kam mir in dieser kurzen Zeitspanne als der auffallendste Mensch von ganz Mailand vor, und ich war es wohl auch.
In der Mitte der Straße stolperte ich, und einen Augenblick lang sah ich den Zug geradewegs auf mich lossteuern. Dann rückten die Gesichter und die flatternden Fahnen auf der anderen Seite näher, und ich sah wieder Tamaras Taschentuch winken. Der Milizsoldat vor ihr sah mich stirnrunzelnd an, aber er stand stramm und konnte sich nicht rühren. Der dicke Mann fuchtelte mit einem Fähnchen vor meinem Gesicht. Die Frau in Trauer rief mir ärgerlich etwas zu, das im Lärm unterging. Dann ergriff mich das Mädchen am Arm und begann mich durch die Menge mit sich zu ziehen. Der dicke Mann, der einsah, daß er mehr Platz haben würde, wenn wir weggingen, rückte zur Seite. Einen Augenblick später waren wir hinter der Menge. Ich schöpfte tief Atem.
»Gott sei Dank, das ist vorbei.«
Sie erstickte beinahe vor Lachen.
»Was gibt’s denn?« fragte ich gereizt.
»Ihre Gesichter! Haben Sie ihre Gesichter gesehen?«
»Was für Gesichter?«
»Die von Ihren Beschattern. Sie wollten Ihnen durch die Menge nach. Aber die Leute dachten, die wollten sich nur nach vorn drängen, um besser zu sehen, und wurden wütend. Jemand schlug dem einen den Hut herunter. Es war köstlich.«
»Ich dachte, Sie würden nie das Signal geben.«
»Das wußte ich. Aber ich mußte bis zum letzten Moment warten.« Sie deutete auf eine Seitengasse. »Wir gehen hier hinunter.«
Zwei Straßen weiter, in der Via Oriani, fanden wir eine große Fiat-Limousine mit laufendem Motor. Drinnen saß Zaleshoff. Als wir an den Wagen kamen, stieg er aus.
»Alles in Ordnung?« fragte er das Mädchen.
»Alles in Ordnung. Hätte nicht besser gehen können. Die müssen noch mindestens eine Dreiviertelstunde auf der anderen Seite warten, bis sie herüber können.«
»Gut.« Er nickte mir zu. »Gut gemacht. Steigt ein.«
Ich stieg in den Fond, und er folgte mir. Das Mädchen setzte sich ans Steuer.
Jetzt hatte die Reaktion eingesetzt. Aus irgendeinem Grund schüttelte es mich vom Kopf bis zu den Füßen.
Zaleshoff bot mir eine Zigarette an, die ich gern annahm.
»Nun«, sagte ich bitter, »was machen wir jetzt bis halb elf Uhr abends? Uns verstecken?«
Er zündete seine Zigarette an und lehnte sich behaglich in die Kissen zurück. »Jetzt«, sagte er gemütlich, »werden wir uns amüsieren. Los, Tamara!«
Wir fuhren die Autostrada nach Como, machten eine Dampferfahrt auf dem See und dinierten in einem Restaurant mit Aussicht auf das Wasser. Ich fühlte mich ungemein wohl. Die Sonne war eben untergegangen, als wir mit dem Essen fertig waren, und wir setzten uns eine Weile auf die Terrasse, tranken Kaffee und rauchten.
Die Sterne waren fast blendend hell. An einem Ende der Terrasse war eine Gruppe Zypressen, die sich wie dicke schwarze Finger von dem schwarzblauen Himmel abhoben. Ein Geruch von Tannenharz lag in der Luft. Ich hatte meine Gefährten vergessen, dachte an Claire und wünschte, sie wäre bei uns, als Zaleshoff zu reden begann.
»Was wollen Sie eigentlich machen, wenn Sie nach England zurückkommen?«
Ich erwachte aus meiner Trance und blickte auf ihn. Ich sah vor mir nur zwei schattenhafte Konturen und zwei Zigarettengluten.
»Woher wissen Sie, daß ich nach
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