Anlass
London. Ich würde schon nächste Woche nach Hause fahren, hinaus aus dieser elenden Atmosphäre von Betrug, Intrige und Gewalt. Es würde herrlich sein, Claire wiederzusehen. Am Abend meiner Ankunft würden wir in das chinesische Restaurant gehen. In London hatte man freilich nicht einen solchen Mond und solche Sterne, aber man wurde auch nicht von Detektiven mit schwarzen Hüten verfolgt. Die Boy Scouts marschierten nicht so gut wie die Balilla , aber es gab auch keine Lautsprecher, die solchen Unsinn über die Schönheit des Krieges brüllten.
Ohne offensichtlichen Grund, erinnerte ich mich plötzlich an etwas, was Hallett einmal über die Nazipropaganda gesagt hatte. Es war nach dem Mittagessen gewesen, und wir hatten uns in einer Zeitung Bilder von nationalsozialistischen Massenkundgebungen angesehen. Ich hatte eine Bemerkung über die Wirksamkeit der deutschen Propagandamethoden gemacht. Er lachte nur. »Sie sind wirksam, weil sie es sein müssen. Die herrschende Klasse hierzulande hat diese Sorge nicht. In England liest man die Zeitung und schwindelt sich selbst etwas vor.« Aber Hallett war Sozialist, wie ich mir bei seinen Aussprüchen immer wieder sagte. Und Zaleshoff war meiner Meinung nach Kommunist, ein Sowjet-Agent. Es war Zeit, daß ich mich zusammenriß und wie ein vernünftiger Mensch benahm. Dieser Plan Zaleshoffs war reine Idiotie. Ich hatte schon eine ausgiebige Warnung erhalten; das nächstemal würde man mit mir vermutlich wie mit Ferning verfahren. Ich faßte einen Entschluß.
»Übrigens«, sagte ich, als wir einstiegen, »habe ich beschlossen, mit dieser Sache heute abend Schluß zu machen.« Als ich es aussprach, fühlte ich mich etwas beschämt. Aber ich sagte mir, daß es keinen anderen Ausweg gab.
Zaleshoff war im Begriff, hinter mir einzusteigen. Er blieb stehen. Das Mädchen drehte sich um und kicherte.
»Ein schlechter Witz, Marlow. Aber ich habe ja immer gesagt, der englische Sinn für Humor ist etwas …«
»Moment, Tamara.« Zaleshoffs Stimme war ruhig, aber seine Worte fielen wie eiskalte Wassertropfen. »Das war doch ein Witz, Marlow, nicht wahr?«
»Nein« war alles, was ich herausbrachte.
»Wirklich ein schlechter Witz«, sagte er langsam. Er stieg ein und ließ sich schwer in den Sitz neben mir fallen. »Darf man nach dem Grund dieses Entschlusses fragen?«
Ich fand die Sprache wieder. »Versetzen Sie sich an meine Stelle, Zaleshoff. Ich habe bei dieser Sache alles zu verlieren und nichts zu gewinnen. Ich …«
»Einen Augenblick, Marlow, hören Sie zu. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie mit dem, was Sie tun, nicht nur Ihrem eigenen Land einen bedeutenden Dienst erweisen, sondern auch Millionen von Europäern. Neulich fragten Sie mich, was zum Teufel ich damit zu tun hätte. Das kann ich Ihnen nicht erklären, und Sie haben vielleicht merkwürdige Vermutungen darüber. Sie müssen sich auf mein Wort verlassen, daß ich auf der richtigen Seite stehe. Damit meine ich nicht die Seite der britischen und französischen Staatsmänner oder Bankiers oder Industriellen. Ich meine die Bevölkerung dieser Länder und auch die meines Landes, Menschen, die den Kräften widerstehen können, die die Völker Italiens und Deutschlands auf die Knie gezwungen haben. Das ist alles.«
Ich zögerte, ein klägliches Zögern. Schließlich murmelte ich: »Es hat keinen Zweck, Zaleshoff, ich kann es mir nicht leisten.«
»Sie können es sich nicht leisten?« äffte er mich nach. Dann lachte er. »Ich dachte, Sie sagten, Sie sind kein Geschäftsmann, Mr. Marlow!«
Gegen elf Uhr fuhr ich langsam die Autostrada entlang, weg von Mailand. Ich hatte Zaleshoff und das Mädchen in einem caffè zurückgelassen, aber Zaleshoffs endgültige Instruktionen wirbelten mir noch im Kopf. »Kämpfen Sie gegen ihn mit Zähnen und Krallen. Seien Sie so wütend, wie Sie wollen. Aber vergessen Sie um Gottes willen nicht, nachzugeben.«
Der Aprilhimmel war jetzt bedeckt. Es war warm im Wagen, aber ich fröstelte doch etwas. Mein Fuß gab nach und nach den Gashebel frei. Dann sah ich zwei rote Lichter dicht nebeneinander.
Obgleich ich darauf vorbereitet war, sie zu sehen, erschrak ich. Ich fuhr ganz langsam und stellte die Scheinwerfer ein. Es war ein großer Wagen, er stand ziemlich verborgen unter ein paar Büschen, die von einer Böschung herunterhingen. Ich drehte die Scheinwerfer ab, stoppte in ein paar Meter Entfernung und wartete Dann sah ich General Vagas aussteigen und auf mich zukommen.
12.
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