Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
Vom Netzwerk:
gehen darf. In jeder Einheit sind Häftlinge aus allen Stufen gemischt, damit die Vergünstigungen von Stufe III für alle sichtbar sind.
    Zu jeder Tages- und Nachtzeit herrscht in acht oder zehn der Zellen Ruhe. Lautlos, da hinter Glas, trainiert ein blondbärtiger Häftling im unteren Kraftraum, dessen Ausrüstung aus einer Klimmzugstange besteht. Im oberen Kraftraum ist ein Häftling mit einem halb ausgewachsenen Afro zu sehen; er presst dasGesicht an die Fensterscheibe und blickt auf das Nichts des Spätnachmittags hinaus. (Das CSP verfügt über kein Freizeitgelände draußen.) Ein, zwei andere Häftlinge pressen das Gesicht ans Fenster ihrer Zellentür. Ein weiterer duscht. Durch die Glastür des engen Duschraums erkenne ich seinen Kopf und Oberkörper verschwommen in honigfarbenem Licht. Das Wasser läuft höchstens zehn Minuten, dann stellt der Kapsel-Computer es ab. Will man sich rasieren, bringt einem ein Wärter vor dem Duschen einen Rasierapparat und holt ihn danach wieder ab.
    «Ich hab mich noch immer nicht richtig daran gewöhnt, wie still es in dieser Anstalt ist», sagt Dennis.
    In den Zellen selbst ist es selten still. Das Fernsehen ist im CSP wichtig – so wichtig, dass ein Häftling, der bei der Einlieferung keinen eigenen mitbringt, einen gestellt bekommt, sobald er aus Stufe I heraus ist. Das CSP hat seinen eigenen Sender, der Weiterbildungs- und Berufsschulungsprogramme ausstrahlt (Dennis erwähnt «Hausmeister» als einen Ausbildungsberuf), auch Spielfilme und Religiöses. Samstagabends spielt man Bingo. Der Freizeittherapeut des CSP, Jim Gentile, richtet die Kamera auf einen rotierenden Käfig, aus dem er nummerierte Kugeln zieht. Er ruft sechs Spiele aus, und die Häftlinge, die gewonnen haben, schicken ihm ein Gesprächsgesuch. Wenn Gentile dann am nächsten Tage seine Runde macht, überreicht er den Gewinnern einen Schokoriegel. Er sagt, wenn er sich mal einen Samstagabend freinehme, bekomme er drei Tage lang Hassbriefe.
    Im Souterrain des CSP ist die sogenannte Aufnahme untergebracht. Dort treffen die Häftlinge in ihren orangefarbenen Overalls ein, von dort verlassen sie den Komplex. Als Dennis und ich hinkommen, ist gegen jedes Zellenfenster ein Gesicht gepresst. Neuankömmlinge. Alle sehen wie etwa achtundzwanzig aus. Weiße, Hispanos, Schwarze; jeder voll im Saft. Einer ruft niemand Besonderem zu: «Yo! Wie oft darf man in Stufe I im Monat telefonieren?»
    Ich spüre, wie sie mich ansehen, und weiche ihren Blicken aus. Damit nicht: was? Damit es mich nicht zu ihnen hinzieht? Damit sie mir nicht meine Angst anmerken? Damit sie mich nicht in ihren Krieg hineinziehen? Damit ich mich nicht emotional mit der Tatsache auseinandersetzen muss, dass ich frei bin und bald auf einem Highway, an Wacholderbüschen und kümmerlichen Kiefern vorbei, einem Abendessen in Florence entgegenbrause? An der Junior-Highschool habe ich gelernt, dass ich manchmal, indem ich auf dem Flur den Blicken bestimmter Kinder ausgewichen bin, ihrer Aufmerksamkeit oder wenigstens ihren Schlägen entgehen konnte. Den Blick zu senken ist ein Zeichen von Respekt – das habe ich schon sehr früh gelernt. Aber natürlich ist es auch ein Wegschauen.
    Eine der Zellen in der Aufnahme hat ein richtiges Fenster, nicht nur einen Schlitz in der Tür. Der Schwarze mit dem rasierten Schädel, der dahinter steht, ertappt mich dabei, wie ich ihn ansehe. Ich wende den Blick ab und sehe wieder hin, und er grient mich seltsam an – ein Grienen, in das ich, glaube ich, nicht zu viel hineinlese, wenn ich es als Hohn auf jene Art von Lächeln verstehe, das zwei Menschen austauschen, aber gleichzeitig ist es eine Geste des Vertrauens: dass ich den Hohn kapiere und darauf eingehe. Ich erwidere das Grienen, zu breit. Es fällt mir aus dem Gesicht, und ich wende den Blick ab.
     
    Die Befürworter des Gefängnisses, die die Stadt schon unter einem warmen Geldregen aus Washington aufblühen sahen, dürften einige Überraschungen erlebt haben. Die wichtigsten Bauaufträge für das FCC Florence gingen allesamt an große Firmen außerhalb vom Fremont County, und etliche Männer aus Florence, die auf eine Anstellung als Bauarbeiter gehofft hatten, fielen beim Rückentest durch. Statt Beschäftigung verzeichnetedie Stadt einen Zuwachs an Verkehr, Staub und lebhaftem Kneipenbetrieb. Als die Zeit kam, das ADX mit Personal auszustatten, importierte die Vollzugsbehörde in der Absicht, ihr Vorzeigeobjekt möglichst professionell zu betreiben, erfahrene

Weitere Kostenlose Bücher